31.08.2013

Die Existenzform des Meisters


Der Mensch strebt nach Sinn und ohne Sinn verkommt er. Dazu muß er sich die Frage nach den Zwecken stellen und sie selbst beantworten. Der Lebensentwurf des Handwerkers bietet die Perspektive eines Berufes, der sich zum Teil selbst als Zweck genügt. Diese Option ist sicher nicht für jedermann, aber womöglich eine interessante Alternative zum zwecklosen Jobben im Hamsterrad. Und zumindest ein gutes Referenzbeispiel, um heutige Lebensentwürfe kritisch zu vergleichen und zu analysieren. Dazu wollen wir eine Essenz des Handwerkers destillieren: Die Existenzform des Meisters. Die Meisterschaft oder Meisterlichkeit soll als Lebenseinstellung aufgefaßt werden, die am besten durch die von ihr umfaßten Aspekte beschrieben werden kann:

1. Lehre


Der Weg zum Meister beginnt mit dem Lernen – und hört nie damit auf. Lernen hat freilich rein gar nichts mit Schulgebäuden oder Lehrplänen zu tun, sondern bedeutet die Suche nach einem Lehrer, der in der Regel bereits Meister ist und als Mentor und Vorbild dabei helfen kann, selbst Meisterschaft zu erreichen. Dieses Lernverhältnis hat allerdings etwas Hierarchisches und wirkt dadurch besonders anachronistisch.


2. Übung


Um ein Meister zu werden, braucht es in der Regel ungefähr 10.000 Stunden Übung. Hört sich viel an, aber entspricht ungefähr einem Jahrzehnt mit bloß 3 Stunden Übung pro Tag, etwa so viel wie Sportler trainieren und Musiker auf ihrem Instrument üben. Das Üben selbst ist ein Ritual und will als solches zelebriert werden. Der Lehrling auf dem Weg zur Meisterschaft beginnt die Wiederholung zu lieben und in der Übung einen Zweck an sich zu sehen. Wer darin nur ein Mittel sieht und stets auf die bezweckte Verbesserung der Fertigkeiten schielt, wird kaum die nötige Geduld aufbringen. Denn die Verbesserung verläuft nicht gleichmäßig; über lange Zeiträume scheint kein Fortschritt spürbar, bis man dann plötzlich und unvermutet bemerkt, daß man eine neue Schwelle passiert hat.


3. Hingabe


Der Weg zur Meisterschaft hat eine transzendente Komponente und weist über den einzelnen hinaus. Es ist ein Weg der Sublimierung des Egos zugunsten der ganzen Persönlichkeit. Bequem ist dieser Weg selten, doch je größer der Widerstand, desto bedeutsamer der Schritt. Die größte Gefahr auf dem Weg ist der Stolz – jener Stolz des Lehrlings über das Überwinden einer Schwelle, der ihn darin schwelgen läßt und sich dabei genügen läßt, sodaß er keine weitere mehr zu nehmen vermag. Der wahre Meister setzt das Üben auch nach dem Erreichen der Meisterschaft fort, mit derselben Bescheidenheit und Hingabe wie am ersten Tag. Unbeirrt wandert er dem Gipfel entgegen und am Gipfel angekommen, wandert er weiter. Denn sein Blick gilt nicht dem Ziel an sich, sondern dem Pfad. Diese Pfadorientierung, die Konzentration auf das Wirken im Hier und Jetzt, bringt ihn weiter und läßt ihn größere Ziele erreichen als die verbissenste „Zielorientierung“. Sein Pfad ist ein ewiger, ihn zu Wandern ist des Meisters Lust.


4. Selbstverständnis


Die Meisterschaft liegt also im Weg selbst, nicht im Zeitpunkt deren Erreichens. Man wird nicht zum Meister, sondern ist es – lebt es als Einstellung. Heute tragen wir die Vorstellung in uns, ein Beruf „werden“ zu müssen und zu können, etwa in dem wir viele Jahre in einer Black Box verbringen und dann „geworden“ hinauskommen. Noch niemand ist im Medizinstudium Arzt „geworden“, niemand im Mathematikstudium Mathematiker. Wer angestrengt auf das Werden wartet, wird es nie sein. Wer sich auf das Sein konzentriert hingegen, wird werden – ein immer besserer Arzt oder Mathematiker. In der Motivationsforschung nennt diesen Zugang manchmal „Visualisierung“; man komme dem Erfolg näher, indem man sich vorstelle, wie und wer man nach diesem Erfolg ist und sich fühlt. Tatsächlich gibt es nur einen Weg, etwas oder jemand zu sein, das oder der man noch nicht ist: Es zu sein. Wer nicht sein kann, kann nie werden. Der Weg zum Meister ist nur zu bewältigen in der tiefen, inneren Überzeugung, es schon sein – in jedem Moment, bei jedem Schritt meisterlichkeit zu leben und ihr so ganz unbewußt näher zu kommen. Freilich, auch der größte Meister macht Fehler, und auf dem Weg sind die Fehler stets zahlreicher als die Erfolgserlebnisse. Der Meister jedoch führt auch nach Hunderten Fehler den nächsten Schritt im vollkommenen Selbstverständnis aus, sein Bestes zu geben; irgendwann wird es ausreichen, um das Hindernis zu überwinden. Dieses zuversichtliche Selbstverständnis unterscheidet den wahren Meister von dem, der bloß davon träumt.

Diese Haltung schildert keinen spezifischen Handwerker zu einer spezifischen Zeit oder an einem spezifischen Ort. Es handelt sich um den Versuch, einen Archetypus als Essenz zu destillieren – den Archetypus des mit eigener Hand Werkenden, dessen Arbeit unabhängig von anderen Zwecken sinnstiftend ist. „Mit eigener Hand“ ist nicht rein wörtlich zu nehmen, wenngleich es in der Regel wörtlich sein muß: Eine Tätigkeit, deren spezifisches Muster an Fertigkeiten uns „ins Blut“ übergehen kann und somit Teil von uns selbst wird. Diese Tätigkeit wird in der Regel Werkzeuge erfordern, in deren Einsatz wir Meisterschaft erlangen können. Das Werkzeug unterscheidet sich vom Automaten dadurch, daß es den Menschen nicht ersetzt, sondern ergänzt. An der Maschine ist nichts an sich Schlechtes, viele Maschinen können überaus nützliche Werkzeuge sein, andere sind Automaten. Auch der Automat ist nicht an sich schlecht, nur erlaubt er die Existenzform des Handwerkers nicht, außer dem Automaten-Konstrukteur. Wem die Arbeit Sinn stiftet, der verzichtet auf den Automaten – wie der Maler das Malen seiner Bilder nicht „auslagern“ wird. Welchen Anteil eines Werkes wir – angesichts der deutlichen Vorzüge der Arbeitsteilung – auslagern können, ohne daß es aufhört, unser Werk zu sein, ist eine schwierige Frage. Die Antwort darauf läßt sich wohl bloß spüren.

Auch der Eremit kann Meister sein; doch fehlt dem Eremiten ein ganz wesentlicher Aspekt des Werkes: anderen von Wert und dadurch von Bedeutung zu sein. Das Schöne ist auch schön, wenn es niemand sieht, doch niemals wird es Menschen etwas bedeuten. Das Werk, das nicht unter Menschen wirkt, soll man es überhaupt Werk nennen? Kann es Werken ohne Wirken überhaupt geben? Den tiefsten, am stärksten befriedigenden Sinn erhält das Werk jedenfalls erst dadurch, für andere Menschen wertvoll zu sein – erst dann hat der Handwerker einen Wert geschaffen, und kann zuversichtlich sein, auch ein Werk geschaffen zu haben, nicht bloß einer Täuschung erlegen zu sein.

Auszug aus dem Vortrag "Handwerk - die Seele des Unternehmertums?"von Rahim Taghizadegan am 10.03.2008 im Institut für Wertewirtschaft, Wien ©

Ich danke für seine freundliche Genehmigung zur Weiterverwendung.