30.09.08
Gestern beim Nachmittagstraining die ganz große Überraschung: Grace huscht auf den Spielplatz: bitte nach dem Unterricht ohne schuldhaftes Zögern Gepäck zusammenraffen und umziehen! Ich fasse es nicht - nach 3 Wochen Dasein als Grotten-Olm in einem feuchten, klammen Zimmer (aber immerhin mit Dusche!) mit Felsenblick und nicht funktionierendem elektronischen
Türschließer (was zu einem sehr innigen Verhältnis zu den Elfen geführt hat) darf ich wieder an's Tageslicht! So schnell habe ich noch nie gepackt, in 15 Minuten bin ich abmarschbereit, Viktoria und Grace helfen mir, mein Geraffel rüber in die Akademie zu schleppen und ich darf mein neues, noch jungfräuliches Zimmer beziehen. Ich bin die erste Gästin. Alles ganz neu.
Zimmer 410 in der Daoistischen Wushu-Akademie zu Wudang Shan - von mir persönlich eingeweiht! Irgendwo werde ich an einer unauffälligen Stelle meinen Namen hineinritzen. Auf ewig mein. Ich bin so dankbar, endlich in ein trockenes Nest zu steigen und die Aussicht, morgen früh mit Blick in die Berge zu erwachen (na ja, vielleicht auch nicht, um 5.00 h ist es natürlich noch stockfinster), dass ich die winzigen baulichen Mängelchen gnädig übersehe. Nun kommen endlich auch die Kleinigkeiten zum Einsatz, die im Gästehaus völlig überflüssig waren, wie meine hochsaugfähigen papierdünnen Super-Trecking-Handtücher, der Schwamm, das Putzmittel...glücklicherweise habe ich mir in einem hellen Moment noch schnell das Klopapier aus dem Gästehaus geschnappt. Tassen gibt es auch keine, Grace bietet mir zwar großzügig ihre eigene an, aber ich habe ja mein chinesisches Tee-Transportgefäß, dass ich sonst immer zum Training mitschleppe, nun dient es halt als Tee-, Kaffee- und Bierglas.
Beflügelt schwebe ich zum Abendtraining. Guan hatte in einem unbedachten Moment geäußert, dass ich die Form in 4 Tagen - zumindest dem Aufbau nach - gelernt haben werde. Ich hatte nach seiner ersten Ansage überhaupt nicht damit gerechnet, während meines Aufenthalts fertig zu werden, vielleicht bin ich ja doch nicht so talentfrei, wie ich mich nach Guans Kommentaren meist fühle...
Ich schaue kurz Viktoria zu, die sich für eine absolut exotische Waffenform entschieden hat: Fu Chen - die für Wudang typische Rosshaar-Peitsche. Guan ist zunächst verblüfft, diese Gattung ist normalerweise überhaupt nicht gefragt. Es reizt ihn aber offensichtlich, auch das einmal zu unterrichten.Er führt kurz vor, sehr beeindruckend, sehr schnelle Drehungen und Wirbel - er schaut Viktoria an: Nachmachen! Der Blick ist Gold wert. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Strenger Blick von Guan: "Practice" - Üb' gefälligst! Ja, schon gut...
Viktoria hatte mir erzählt, dass sie zu Hause Shaolin-KungFu trainiert. Nun denkt sie daran, dass sie sich wg. des Alters langsam etwas Ruhigeres sucht, da sie wohl nicht mehr ewig die hohen Sprünge und Tritte machen kann. So ist sie auf Wudang gekommen. Sie ist 44. Ein Jahr älter als ich. Mit Interesse nehme ich zur Kenntnis, dass ich mich demnach schon vor Jahren auf's Kampfkunst-Altenteil begeben habe.
Das lasse ich einfach mal so da stehen.
Nach dem Training weiht Guan Viktoria in die Trainingszeiten ein, erwähnt auch das Morgentraining um 6.00 h. Und dass er da "nicht immer" dabei ist. Weil er da meditiert. Ohne rot zu werden. Er erzählt weiter, wie so der Tagesablauf ist, wir plaudern noch ein wenig. Ich bin langsam müde und verabschiede mich. "Ich gehe jetzt hoch. Meditieren." Irritiert schaut Guan mir hinterher.
Als ich mit Viktoria in's Haus gehe, schwärmt sie: d a s ist es, plant schon ihre Wudang-Zukunft - klarer Fall von Wudang Fieber. Hatte ich mir schon gedacht.
01.10.08
Beim gestrigen Morgentraining wusste Guan uns die Zeit damit zu vertreiben, dass er uns zu verschärften Pratzen-Training animiert hat. Ich trainiere mit Viktoria zusammen und stelle schnell den feinen Unterschied zwischen meinem bisherigen Weichei-Training und der Shaolin-Variante fest. Ich lerne einiges und mit schmerzenden Knochen beschließe ich, den Vorstand für den Ankauf solcher Dinger zu begeistern. Ohne gezieltes Schlag- und Tritt-Training wird das nichts und so gebe ich alles, wenn es auch nicht viel ist. Erst als Zhang Zen seitliche Tritte aus der Hüfte ansagt, winken wir beide ab: das Alter...
Nach dem Training beordert uns Guan für 15.30 h in den unteren Ballsaal. Wiemeist gibt es auf die Frage wieso? Weshalb?Warum? nur die Antwort: "Bringt was zu Schreiben mit!" Aha. Als wir auflaufen, führt er uns in den "Schulsaal". Dort erhalten die Schüler ihren Schulunterricht. Den gibt es aber nur bei schlechtem Wetter. Heute ist tolles Wetter, deshalb sind die Schüler draußen. Und wir drinnen. Und harren gespannt der Dinge, die da kommen. Guan baut sich vor der Tafel auf, räuspert sich kurz, dann geht es los: "Was Sie schon immer über Atmung und Qi wissen wollten, aber nie zu fragen wagten"...wahrscheinlich. Zumindest sind das die wenigen Brocken, die ich verstanden habe. Guan hält den Unterricht ausschließlich auf Chinesisch, was den Kreis der verständigen Zuhörer ziemlich einschränkt. Zur Verdeutlichung malt er Bilder und Zahlen auf die Tafel, die allerdings nicht unbedingt zur Erhellung beitragen. Zwanglos haben beim Platznehmen in dem Schulraum drei Sprachgruppen zueinander gefunden, die jeweils zusammen sitzen: eine chinesische, eine russische und eine englische. Die Gruppen beginnen, untereinander zu diskutieren, um wenigstens ein bisschen was zu begreifen. Dummerweise sitze ich in der russischen Sprachgruppe, was meinem Verständnis nicht gerade dienlich ist.
Gelangweilt schaue ich mich um, mein Blick trifft auf Yaorou, die offensichtlich dabei ist, ihr Zeichentalent zu schulen. Zhang Zen ist gar nicht erst erschienen, hatte wohl einen wichtigen Termin...Stimmung wie in meiner Schulzeit, fast jeder schwätzt mit seinem Nachbarn oder blickt sehnsüchtig nach draußen, wo es - im Gegensatz zu dem kühlen Schulraum - kuschelig warm ist. Ich warte darauf, dass irgendjemand Papierflieger faltet und durch die Klasse schickt oder Papierkügelchen mit einem aus einer Kuli-Hülle gebauten Blasrohr auf den Lehrer schießt...aber dafür sind wir dann doch zu feige.
Der Versuch, in dem 40iger-Jahre-Mobiliar eine bequeme Position zu finden ist aussichtslos, da die Bestuhlung und die Pulte halt für Kindergrößen gedacht sind. Unauffällig mache ich ein paar Fotos der Szenerie...bloß nicht erwischen lassen, sonst gibt es bestimmt einen Eintrag in's Klassenbuch, oder - noch schlimmer - ich muss nachsitzen!
Am Ende der zweistündigen Veranstaltung fasst Youki für die Englisch-Sprechenden den Inhalt in drei Sätzen zusammen. Ich werde wohl doch das Werk von Altmeister Wang, dem Lehrer von Guan, selbst lesen müssen.
Heute ist chinesischer Nationalfeiertag, eingebettet in die "Golden Week", in der die Chinesen arbeitsfrei haben und sich auf Wanderschaft begeben. Fast das ganze Land ist auf Reisen, die Busse werden unzählige Touristen ausspucken, so dass heute nicht unbedingt der günstigste Tag ist, um einen der umliegenden Tempel zu besichtigen. Bevor wir in's "Wochenende" entlassen werden, hat sich Guan noch etwas Nettes ausgedacht, nach kurzem Aufwärmtraining ruft er die Truppe zusammen: Vorführen! Jeder das, was er in der letzten Woche gelernt hat. Und der Rest soll aufmerksam beobachten und hinterher dem Delinquenten mitteilen, was auffällig und verbesserungswürdig ist. Toll. Ich liebe solche Aktionen sehr, glücklicherweise bin ich gleich als zweite dran, huddele die Form lieblos durch, was von dem kritischen Publikum natürlich entsprechend gewürdigt wird. Ist mir völlig egal, Hauptsache, ich habe es hinter mir. Danach ist natürlich keine Entspannung angesagt, da Guan jeden einzelnen zur Manöverkritik auffordert, da muss man sich schon mal schnell was aus den Fingern saugen.
Die "Prüfung" gefällt Guan so sehr, dass er uns verspricht, dies nun jeden Mittwoch durchzuziehen. Xiexie, Shifu.
Nun möchte ich schnell in die Stadt, normalerweise ist der Nachmittag ja frei. Heute hat der Chef-Animateur unseres ganz besonderen Robinson-Clubs aber noch einen Plan: um 15.30 h alle antreten - wir basteln zusammen Jiaozi. Dies sind gefüllte Teigtaschen, die ich sehr liebe, hier aber ziemlich selten (eigentlich gar nicht, um genau zu sein) bekomme, weil es sich zum einen eher um eine Spezialität aus dem Norden handelt und zum anderen die Herstellung ziemlich aufwändig ist. Schade, dass es gerade heute sein muss, aber Guan ist da gnadenlos. Da Viktoria morgen keinen freien Tag hat und mich gebeten hat, bei ihrem Einzeltraining zu übersetzen - ihr Wunglish sitzt noch nicht so richtig -, können wir den Ausflug nach Laoying auch nicht verschieben. Erst nachdem wir hoch und heilig versprochen haben, rechtzeitig wieder in der Akademie zu sein, werden wir in Gnaden entlassen.
Wir schlagen uns durch die Horden von Touristen hinunter in's Tal, meine Spekulation, dass um die Mittagszeit wohl noch nicht so viele Leute auf dem Weg nach unten sind, ist nicht ganz aufgegangen. Nach fast einer Stunde Fahrt in dem reichlich vollen Bus kommen wir aber dennoch glücklich an und laufen die paar Meter in den Ort. Erste Station: Schwertladen. Nach ein paar Anläufen fällt mir doch endlich wieder ein, welcher Laden Lins Tante gehört.Ich habe die ausschließlich chinesisch gedruckte Visitenkarte in der Hand, die hilft beim Wiedererkennen aber nicht wirklich weiter. Allerdings hellt sich die Miene des Ladenbesitzers auf, als er mich anhand der Karte als Kundin erkennt. Ich wappne mich, ich weiß, dass ich jetzt handeln muss und ich weiß auch, dass ich das nicht kann. Ich greife zielsicher zu den Damast-Schwertern, sortiere gleich zwei aus, die mangelhaft verarbeitet sind, halte das Auserwählte dem Mann hin: "Duoshao qian? - was kostet das?" Er nennt den erwarteten Preis, 880 Yuan. Ich hole tief Luft: "vor zwei Wochen habe ich hier schon zwei Schwerter gekauft und ein Freund von mir hatfür dieses Schwert 550 Yuan bezahlt!" Er schaut mich an. O.K. 550 Kuai. Ich bin fassungslos. Ich war auf endlose Diskussionen eingestellt, zumal Lins Tante ziemlich hartleibig beim Handeln war. Verwirrt zücke ich den Geldbeutel, habe ich das wirklich richtig verstanden? Jaja, wir sind ja schließlich alte Freunde, das passt schon. Etwas nachdenklich verlasse ich den Laden, bin aber glücklich, dieses Schwert in den Händen zu halten und hoffe, mit ein wenig Muskeltraining damit auch üben zu können.
Im Supermarkt erstehen wir noch ein paar überlebenswichtige Dinge. Viktoria hat sich in eine himmelblaue Waschschüssel verliebt, in deren Mitte zwei allerliebste pausbäckige Engelchen mit einem Hundebaby spielen. Ich kann ihre Begeisterung verstehen und bestärke sie "ja, die musst du kaufen, so etwas darf in keinem Haushalt fehlen". Ich selbst entdecke eine niedliche herzförmige Wärmflasche mit aufgedruckten Erdbeeren und Kätzchen drauf, die muss natürlich mit. Weil mir meine Haarsträhnen beim Training ständig in's Gesicht fallen, suche ich nach Haarspangen und entdecke wunderschöne "Hello-Kitty"-Klippse. Und welche mit Totenköpfen drauf. Mit unseren Schätzen bepackt machen wir uns wieder auf den Heimweg.
Auf dem Berg werden wir bereits erwartet, schnell das Zeug verrümpelt und antreten zum Jaozi machen. Mein bizarrer Haarschmuck wird bewundert, ich trage natürlich die Hello-Kitty-Spangen zusammen mit den Totenköpfen. Yin und Yang. Wie im echten Leben.
Im Ballsaal wurden die Tischtennisplatten mal wieder umfunktioniert, die eine Hälfte mit Plastik abgeklebt, die andere mit Zeitungen ausgelegt. Teig und Füllung sind bereit, es kann losgehen. Zhang Zen ist schon voller Tatendrang, er hat sich an den Teig-Tisch gestellt und fängt schon einmal an, Würste zu formen und mit dem Hackmesser in kleine Portionen zu schneiden. Das sieht schon mal richtig professionell aus. Unser Klassenkamerad Dou stellt sich neben ihn und fängt an, aus den kleinen Teigstücken mit einem kleinen dicken Holzstab runde Läppchen auszurollen. Das macht er offensichtlich auch nicht zum ersten Mal. Wir anderen stehen erst einmal unschlüssig in der Gegend herum, ich fotografiere lieber erstmal und kucke, was weiter passiert. Nachdem einige Teiglappen fertig sind, schnappen sich diese ein paar chinesische Mitschüler und fangen mit dem Befüllen und Formen an. Mittlerweile hat Guan ein paar riesige Dämpfbehälter aus der Küche angeschleppt und diese auf die Tischtennisplatte gewuchtet. Nun geht es richtig los. Jeder fängt an, Taschen zu bauen, nach eigener Landessitte. Da gibt es Plinis, Tortelinis, Maultäschle (die aussehen, als hätten sie einen Verkehrsunfall erlitten, die stammen natürlich von mir), kleine Säckchen...ein junger Mann zeigt mir, wie es richtig geht: die Füllung in die Mitte, zusammenfalten, oben zudrücken, an beiden Seiten einschlagen, dann die eine Hand zu einer lockeren Faust ballen, die Teigtasche so auf die offene Faust legen, dass die Füllung in der Öffnung hängt und die zusammengelegten Teigstücke auf dem gekrümmten Zeigefinger liegen, die gerade Kante zeigt zum Daumen. Nun mit der anderen Hand flachdrücken. Fertig.
Wir sind mit Feuereifer bei der Sache, sind mittlerweile alle voller Mehlstaub, es wird viel gelacht und Guans mutmaßlicher Plan, die Mitglieder unserer Gruppe einander näher zu bringen, ist voll aufgegangen. Bei solchen Aktionen sind die Sprachbarrieren schnell überwunden, wir verstehen uns ohne Worte, helfen einander und endlich mischen sich die Gruppen auch einmal. Guan achtet sehr darauf, dass sich niemand ausklinkt. Ob sich alle vorher die Hände gewaschen haben? Wen interessiert das...
Viele Grüße aus dem Grand-Hotel
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