30.09.2008

Lilo in Wudangshan, die 6.

Und wieder einmal heißt es "Neues aus Wudang Shan". Hier ist mein Bericht der letzten Tage.

Da Youki hier überwintern wird, hat sie ihre Mutter gebeten, ihr eine Kiste mit warmen Kleidern zu schicken. Das Paket sollte eigentlich schon längst da sein, Youki trägt schon seit einigen Tagen die Kleider ihres großgewachsenen Mannes Aziz. Da Youki fast einen Kopf kleiner als ich und auch sehr zierlich gebaut ist, sieht das ziemlich albern aus, als hätte sich ein Kind im Kleiderschrank der Eltern bedient. Youki hat deshalb beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. So klein und niedlich sie ist, so resolut kann sie auftreten. Die Leute von der Spedition in Shiyan werden nichts zu lachen haben.


Alexandra und ihre Mutter Tanja wollen Lebensmittel einkaufen. In unserer fröhlichen kleinen Multi-Kulti-Runde haben wir beschlossen, dass wir an unserem freien Tag die Küche okkupieren und jeder ein landestypisches Gericht kocht. Ich habe mich hier allerdings ausgeklinkt, weil meine Kochkünste zwar sicherlich legendär sind, allerdings nicht gerade in der gewünschten Richtung. Das einzige, was ich unfallfrei hinbekomme, ist Spundekäs mit Bretzelchen und vielleicht noch einen Spaghetti-Salat. Beides eher nicht gerade Vorzeigegerichte und so habe ich meine Hilfsdienste für alle Handreichungen angeboten. Dazu gehört heute die Begleitung des morgigen Kochpersonals zwecks Erledigung der Einkäufe.


Guan hat uns ein größeres Taxi organisiert, dass uns die 17 Kilometer nach Shiyan bringen und später dann auch wieder zurück fahren soll. Die Zeit läuft, denn um 17.30 h geht der letzte Bus in die Berge. Wenn wir den nicht bekommen, müssen wir in Laoyin übernachten. Die Strecke ist mit dem Zug nicht so weit, etwa 20 Minuten, keiner hat aber Lust, Einkäufe und Kleiderkiste zu schleppen, so dass dies der günstigste Weg zu sein scheint. Allerdings gibt es eine Dauerbaustelle und ich fühle mich bald wie auf dem Frankfurter Kreuz während der Rush-Hour. Nach über einer Stunde haben wir endlich Shiyan erreicht. Nun müssen wir nur noch die Spedition finden. Gar nicht so leicht. Youki fragt sich energisch durch und hat auch bald die erforderliche Betriebstemperatur erreicht, als wir in irgendeinem rustikalen Hinterhof endlich fündig werden. Dort stehen einige LKW, allesamt hoch beladen mit kreuz- und querliegenden Kisten und Kartons. Wie sollen wir da bloß das Richtige finden? Youki schnaubt kurz, dann geht es los. Wir warten zwar im Auto, haben aber überhaupt kein Problem, jedes Wort, wenn nicht zu verstehen, so doch zu hören. Es dauert nicht lange und die zornesrote Youki kommt triumphierend, begleitet von einem völlig verschüchterten Mitarbeiter, der ihr Paket trägt, zurück. Na also, geht doch!


Nun weiter in die Haupteinkaufsstraße von Shiyan. Die Stadt ist bekannt als "Autostadt". Viele Hersteller und Zulieferer lassen hier produzieren und ein gewisser Wohlstand ist nicht zu übersehen. Die Straßen sind viel breiter, die Stadt selbst wirkt um einiges "aufgeräumter" und auch sauberer als zum Beispiel Laoyin. Natürlich ist auch das Warenangebot ein ganz anderes und ich bedaure sehr, dass wir nicht etwas mehr Zeit haben. Wir gehen in einen großen Supermarkt. Um in die Lebensmittelabteilung im Erdgeschoss zu kommen, muss man erst durch die Haushaltswaren- und Geschenkeabteilung im ersten Stock. Eine sehr verführerische Aufteilung, die mir in China schon öfter begegnet ist. Wir vier Frauen laufen mit großen Augen durch die Non-Food-Abteilung - Schätze! Ich komme an einen Stand mit "Hello-Kitty"-Produkten und kann kaum noch an mich halten. Es gelingt meinen Begleiterinnen schließlich, mich weiter zu zerren, nicht ohne dass ich eine Sabber-Pfütze hinterlasse. Wir beschließen, nächste Woche einen Tagesausflug hierher zu machen. Heute sind nur und ausschließlich Lebensmittel angesagt.
Nachdem jede von uns eine Survival-Ration an Schokolade, Keksen und anderem Süßkram eingepackt hat, gehen wir ernsthaft daran, die Zutaten zusammenzusuchen. Es stellt sich schnell heraus, dass der Laden wohl auf russische Besucher nicht eingestellt ist, jedenfalls wird es mangels Roter Beete wohl leider nichts mit dem Borschtsch. Schade. Wir fangen an zu improvisieren und ich bin schon sehr gespannt, was dabei herauskommt. Russische Spezialitäten nach Wudang-Art.

26.09.08


Ganz was neues: Es regnet! Mit heiserer Kehle und dickem Hals wache ich auf und beschließe direkt, auf das Frühstück zu verzichten und lieber noch eine Runde zu schlafen. Schließlich ist ja "Sonntag". Nach einem vertrödelten Vormittag finde ich mich zum Mittagessen ein - keiner da. Umso besser, das ganze Futter für mich allein. Und für Bebe natürlich. Irgendwann läuft Simon, bepackt mit allen möglichen Einkäufen, ein und bekommt noch ein paar Reste ab. Guan schaut kurz in den Essraum, stutzt kurz "fährst du heute nicht nach Laoyin?" - nein, wirklich nicht. Davon abgesehen, dass ich alles überlebensnotwendige gestern schon in Shiyan besorgt habe, bin ich auch erkältet und gottfroh, einfach mal einen ruhigen Tag zu haben. Das mit dem "ruhigen Tag" lässt ihm wiederum keine Ruhe "komm' heute Nachmittag zum Training" - aber gerne doch. Eine Einzelstunde beim gestrengen Meister stand auf meiner heutigen Wunschliste zwar nicht gerade an erster Stelle, aber wenn er sich schon die Mühe macht, mir an seinem freien Tag die Ehre zu erweisen...wie erwartet wird es fürchterlich, zumal er jetzt auch noch ernsthaft um meine Gesundheit besorgt ist...ob wir nicht zum Arzt...? Nein, mein Hals kratzt! Keine lebensbedrohliche Situation - ich bin doch kein Mann! Er droht mir an, mir sein gefürchtetes Ingwergebräu zu kochen. Ich kenne das Zeug schon, so krank, dass ich das freiwillig trinke, kann ich gar nicht werden. In zähen Verhandlungen einigen wir uns darauf, dass ich ihm einfach sage, wenn ich irgendetwas brauche. Ich finde seine Bemühungen wirklich sehr rührend, er ist ja schon ein Netter und auch ein wirklich verantwortungsbewusster guter Lehrer. Zu gerne würde ich ihn für den Weißen
Kranich adoptieren und mitnehmen.

Wudang-Englisch (Wunglish) für Anfänger:


Da sich die Ausdrucksweise unserer Lehrer als ausgesprochen korrekturresistent (ähnlich meinem Taiji) erwiesen hat, hier eine kleine Auswahl der gängigsten Vokabeln:

Rain: hier ausnahmsweise einmal nicht die vorherrschenden klimatischen
Bedingungen, sondern die Aufforderung, sich warmzulaufen

Strett: wird meist in zwei Zusammenhängen gebraucht - entweder als Haltungskorrektur (ursprünglich wahrscheinlich "straight") oder als Aufforderung zur Dehnungsübung ("stretch")

Stritch: ähnliche Bedeutung wie Strett, allerdings noch mit der Erweiterung, dass das Handgelenk eine gerade Linie mit dem Arm bilden soll

Risss: Universalvokabel, meist im Zusammenhang mit mangelhaften Hüftbewegungen eingesetzt, kann aber auch alle anderen möglichen Haltungsfehler bzw. Fehler in der Handhaltung ansagen

Srish: ebenfalls eine Universalvokabel, wird hauptsächlich eingesetzt, wenn die Aufforderung "risss" nicht den gewünschten Erfolg bringt

Diese Interpretation erhebt keinen Anspruch auf Richtigkeit, zumal der Einsatz der Vokabeln eher frei assoziativ erfolgt. Am schlauesten ist es, einfach chinesisch zu lernen um zu begreifen, was die Lehrer wollen.

27.09.08


Gestern Abend sind neue Gäste angekommen. 11 Leute (!) aus Latvia (Lettland? Litauen??). Wir haben gleich Alexandra, die auch dort herstammt, nicht aus Russland, wie wir alle zunächst glaubten, gefragt, ob sie die Leute kennt. Das Land scheint allerdings doch größer zu sein, als zunächst vermutet, nein, sie kennt die Herrschaften nicht. Wir sind mittlerweile so eine
eingeschworene Gruppe, dass wir die Neuankömmlinge unfairerweise höchst misstrauisch beäugen. Wo wollen die trainieren, wenn schlechtes Wetter ist? Die Ballsäle sind doch schon durch uns voll belegt und die berüchtigte Karaoke-Bar im Tianlu-Hotel wird wohl nicht zur Verfügung stehen, da die Leute im Gästehaus untergebracht sind. In meinem Gästehaus. Das kann ja lustig werden. Wie befürchtet, ist abends erst mal Muppets-Show angesagt, weil ja alles so neu und aufregend ist, Türen knallen, lautes Gerede...wartet nur ab, nach einem richtig guten Trainingstag ist auch bei Euch spätestens um 22.00 h zappenduster!

Willkommen auf dem Wudang Shan!

Wie erwartet erfordern die Wetterbedingungen nun einiges an Improvisationstalent, um alle Schüler beim Training unterzubringen. Die neuen Schüler sind in dem oberen Ballsaal untergebracht, wie in dem unteren. Der, in dem man in der Deckenverkleidung die Ratten lustig trippeln hört, was Bebe schier wahnsinnig macht. Bellend rennt sie mit stier zur Decke gerichtetem Blick in dem Raum auf und ab, immer zwischen den Füßen der Übenden durch. Da muss man höllisch aufpassen, dass man sie nicht erwischt.
Da der Raum beim besten Willen nicht alle Schüler unserer Klasse aufnehmen kann, schickt Guan die Leute, die raumgreifende Formen wie Xingyi oder Schwert üben, an andere Orte. Ein junger Mann findet sich auf dem Flur zwischen den Schlafräumen wieder, ich bekomme ein hübsches Plätzchen zwischen äußerem Treppenhaus und Toilette zugeteilt. Diese ist leider nicht mehr so ganz funktionstüchtig, was allerdings niemand an der Benutzung hindert. Und so riecht es auch. Der Vorteil an diesem Platz ist, dass ich - nachdem ich mehrmals heftig die frisch verputzte Wand gestreift habe (aber ist ja nicht mein Schwert, sondern Guans) - ein recht gutes Gefühl für die "Räume" innerhalb meiner Form verinnerlicht habe. Ich kann sie am Ende ziemlich genau - bis auf zwei Hoppel-Korrekturschritte, weil die Wand im Weg ist - in völliger Ausnutzung des mir zur Verfügung stehenden Plätzchens ausführen. Ist ja auch was wert. Und hin und wieder besucht mich auch ein Lehrer in meinem Exil, um mich zu korrigieren. Immerhin: ich bin nicht vergessen.

Und heute Mittag gehen wir geschlossen in den Tempel und zünden Räucherstäbchen an für besseres Wetter...


Mittlerweile sind Tanja und Alexandra mit den Neuankömmlingen in's Gespräch gekommen: sie sind entsetzt über die sanitären Anlagen, die hygienischen Verhältnisse in der Küche, die feucht-klammen Zimmer und die Trainingsräume.
Wenn ich's mir so überlege - so ganz von der Hand zu weisen ist das nicht. Wenn ich nicht genau gewusst hätte, worauf ich mich einlasse, wäre ich wohl auch etwas unangenehm berührt. Ich stelle allerdings auch fest, dass es gewaltige Anstrengungen gibt, die Verhältnisse zu verbessern. Der Gerüchteküche zufolge soll die Akademie mittlerweile von einem privaten Investor übernommen worden sein, der eine ziemliche Handvoll Geld in die Hand genommen hat, auch um die Schule für Ausländer attraktiver zu machen. Es wird sogar erzählt, dass der neue Eigentümer von Shaolin stammt und dass deshalb schon einige Lehrer und auch Schüler die Schule verlassen hätten. Hierzu muss man wissen, dass Shaolin das traditionelle Zentrum der äußeren Kampfkünste und buddhistisch geprägt ist. Wudang dagegen steht für die innere Kampfkunst und den Daoismus. Während Shaolin sehr stark touristisch aufgemacht ist - hier trainieren weit über 10.000 Schüler an verschiedenen Schulen - geht es in Wudang doch noch sehr ruhig zu.

Über den Wahrheitsgehalt dieser Geschichten kann ich mir kein abschließendes Bild machen, fest steht: es tut sich etwas. Aber solange die Menschen, mit denen ich es hier zu tun habe, die selben sind und ich weiterhin so gut und persönlich betreut werde, kann ich damit leben und werde es auch tun, solange es mir möglich ist.

Nachtrag: der "Russische" Abend
Da Tanja und Alexandra zu spät zum Kochen von einem Ausflug zurückgekehrt waren, hatten sie die Zutaten in der Küche gelagert, um sie am nächsten Abend zu verarbeiten. Dies war dann nicht mehr nötig, da das Küchenpersonal sich kurzerhand der Sachen angenommen und diese verkocht hat. War auch lecker, wenn auch nicht wirklich russisch.

28.09.08


Wie ich gestern erfahren durfte, ist das Wetter in Deutschland blendend.
Vielen Dank für diese Information. Freut mich sehr, dies zu hören. Hier soll es morgen endlich zu dem lang ersehnten Wetterumschwung kommen, wenn wir die enigmatischen Tabellen von Fallingrain richtig interpretiert haben. Es wird auch allerhöchste Zeit, die Wäscheberge türmen sich, und ich frage mich, wie die Eingeborenen dieses Problem lösen. Allerdings habe ich beobachtet, dass der Wäschewechsel hier nicht ganz so häufig vorgenommen wird, wie ich es von zu Hause gewohnt ist. Sehr schön abzulesen ist dies an den weißen Trachten, denen die Speisereste einiger Tage anzusehen sind. Auch die T-Shirts, die darunter durchscheinen, sind einem nach 5 Tagen schon ziemlich vertraut. Der Fairness halber muss man aber erwähnen, dass die Schweißdrüsen der Einheimischen anders beschaffen sind als unsere. Deodorants sind daher hier weitgehend unbekannt, weil unnötig. Während wir also schon anfangen, wie die Füchse zu duften, ist die Geruchsbelastung bei unseren Gastgebern noch durchaus im verträglichen Rahmen. Dafür verfügen wir über ein alkoholabbauendes Enzym, das den meisten Asiaten fehlt. Wie ich finde, haben wir das weitaus bessere Los gezogen.


29.09.08

Gestern war ein großer Tag: das renovierte 4. Geschoss der Akademie kann bezogen werden! Als erstes halten die lettischen Gäste Einzug. Die Karawane zieht mir mit ihrem Gepäck entgegen, ich bin etwas erleichtert, nun kehrt wieder Ruhe in's Gästehaus ein. Auch in unserer Gruppe wird ein Neuzugang erwartet. Schon am Vortag konnten wir einen neuen Gast begrüßen, Dennis aus Litauen, ein Arzt, der sich unter anderem auf Akupunktur spezialisiert hat und hier Qigong lernen möchte. Er spricht sehr gut chinesisch und natürlich auch russisch, so dass auch Tanja endlich einen Gesprächspartner hat. Heute soll Viktoria aus Deutschland kommen. Ich hatte schon E-Mail-Kontakt mit ihr, kenne sie aber nicht. Ich hatte mich angeboten, ihr wegen der Abholung behilflich zu sein, da ich nicht wusste, wie gut Graces Englisch ist. Da war aber jede Sorge umsonst, sie spricht sehr gut. Das hatte ich Viktoria nebst Telefonnummer von Grace schon mitgeteilt und mich gewundert, dass sie ihre Ankunftszeit dann doch an mich geschickt hat. Mittags wollte Grace sie dann am Bahnhof abholen. Wie üblich, habe ich mich in der Mittagspause im Office eingenistet, um meinen wichtigen Geschäften nachzugehen. Die Tür geht auf, Grace nebst neuem Gast kommen herein, beide offensichtlich sehr erleichtert, mich zu sehen. Es stellt sich heraus, dass Viktoria zwar aus Deutschland kommt, aber aus der Ukraine stammt und nur sehr wenig Englisch spricht. Und Grace kein ukrainisch, russisch, oder was auch immer man dort sprechen mag...also gut, Notebook ausgeschaltet - Internet geht eh' nicht, weil irgendein Arbeiter wohl im Überschwang ein Kabel gekappt hat - und ran an die Übersetzung. Als alle Formalitäten erledigt sind, gehen wir zu den Zimmern. Da sind die Letten wild am Wirken, es gibt irgendwelche Probleme. Der Chef der Gruppe kann sich Grace aber nicht verständlich machen. Wir lösen das Problem auf Wudang-Art: der Lette erklärt Viktoria auf russisch, um was es geht, sie übersetzt es mir auf deutsch und ich dann auf englisch für Grace. Und das Ganze retour. Wieviel bei dieser "Stillen Post" von der ursprünglichen Nachricht tatsächlich rübergekommen ist, werden wir nie erfahren, aber am Ende sind auf jeden Fall alle glücklich.

Für meine guten Taten vom Vortag werde ich wohl endlich belohnt: heute Morgen scheint die Sonne! Ich tippe dies ganz, ganz leise, damit es bitte bloß so bleibt. Ich bin vor Dankbarkeit sogar bereit, meinen Polyester-Wudang-Kittel anzulegen, wenn ich damit die Götter milde stimmen kann (oder wenigstens Guan).

Soviel für heute, in ein paar Tagen geht es weiter, wenn es wieder heißt: "Neues aus Wudang Shan"

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