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Die Regierung der Volksrepublik China hat die verschiedensten Kampfkünste zusammengefasst und unterstützt auf nationaler und internationaler Ebene die Verbreitung ausgewählter Stile mit vereinheitlichten Formen als Wettkampfsportarten. Dazu gehört auch das Taijiquan.
Dass hierbei der ursprüngliche individuelle Kampfkunstcharakter verloren geht, wenn es um das Erringen von Punkten nach ästhetischen Kriterien geht, liegt auf der Hand. Auch der meditative Aspekt ist für den Wettkampf unbedeutend. Tatsächlich geht es der Regierung auch weniger darum, die Kampfkünste in ihrer tradierten Form zu erhalten, sondern sie durch die Vereinheitlichung in Form von Sportarten zentralisiert zu kontrollieren. Dies liegt zunächst allgemein in der Natur einer autoritären Regierung, es gibt aber auch einen konkreten historischen Hintergrund, nämlich die Verbindung von diversen Kampfkünsten mit Geheimgesellschaften vor allem während der Ming- (1368-1644) und Qing-Dynyastie (1644-1911). Diese entzogen sich definitionsgemäß staatlicher Kontrolle und waren an zahlreichen Aufständen beteiligt. Der im Westen bekannteste Aufstand war der Boxer-Aufstand (1898-1900), in dem mit Aberglauben und Magie vermischte Kampfkünste eine tragende und tragische Rolle spielten.
Im heutigen China ist aber Taijiquan in der Öffentlichkeit nicht so sehr als Wettkampf- und Leistungssport bekannt, sondern als therapeutisch orientierter Breitensport. Staatlich propagierte vereinfachte Formen der verschiedenen Taijiquan-Stile werden dort vor allem von älteren Leuten als eine Art Gymnastik mit Qigong-Elementen geübt, und auch als Bewegungstherapie von Ärzten verschrieben. Dieses Bild des Taijiquan als Altersgymnastik beherrscht in China die öffentlichen Meinung, so dass Taijiquan häufig dort nicht mehr mit Kampfkunst assoziiert wird. Daneben gibt es aber weiterhin eine relativ kleine Zahl von Übenden die versuchen Taijiquan als vollständige Kampfkunst zu erhalten. Diese agieren auch heute noch teilweise außerhalb des staatlich kontrollierten Bereichs.
Der Ausgangspunkt für die Verbreitung des Taijiquan im Westen waren in den sechziger und siebziger Jahren Hongkong und Taiwan. Während sich die Volksrepublik China zu dieser Zeit noch gegen den Westen abschottete, konnten Lehrer aus diesen Gebieten ungehindert reisen und Taijiquan in westlichen Ländern unterrichten. Während das Niveau dieser Lehrer sehr schwankte, war gleichzeitig die Rezeptionsfähigkeit sehr einseitig. Taijiquan wurde zunächst im Zuge der Hippie-Bewegung als alternative Bewegungsform entdeckt und mit pazifistischem Gedankengut vermischt, das der ursprünglichen Kampfkunst völlig fremd ist. Seit den achtziger Jahren wurde dann Taijiquan im Zuge der Esoterik-Welle als "Meditation in Bewegung" propagiert.
Die Problematik der Rezeption im Westen liegt weniger darin, dass auf Grund eines anderen kulturellen Hintergrunds neue Interpretationen des Taijiquan entstanden sind - als Erweiterung der bestehenden Herangehensweise an diese Kampfkunst sind diese an sich eine Bereicherung. Vielmehr entstehen negative Wirkungen dadurch, dass die Grundlagen völlig ignoriert werden und Taijiquan zu einem Synonym für beliebige langsam ausgeführte Bewegungsabläufe geworden ist. Die strengen Anforderungen einer Kampfkunst, die keineswegs Selbstzweck sind, sondern dem Übenden in allen Aspekten zu einem hohen Niveau verhelfen, werden häufig völlig über Bord geworfen.
Diese Beliebigkeit führt dazu, dass Taijiquan seine positiven Auswirkungen auf Gesundheit und Psyche nicht oder nicht voll entfalten kann. Zum Beispiel führt Ungenauigkeit bei der Haltung dazu, dass Verspannungen nicht gelöst werden können und das Erlangen der grundlegenden Bewegung aus dem Körperzentrum heraus unmöglich wird. Dies wiederum kann zu Überbelastungen von einzelnen Gelenken führen. Darüber hinaus wird es erschwert, zu tieferer geistiger Ruhe zu gelangen, da diese durch die körperliche Entspannung bedingt wird.
Diese Entwicklungen, die in China und in westlichen Ländern auf jeweils eigene Weise zu einer Degeneration der Qualität und des Wertes des Taijiquan geführt haben, sind wahrscheinlich unvermeidlich, sobald sich eine Verbreitung einer komplexen Bewegungskunst an große Massen richtet und dazu inhaltlich verflacht werden muss. Nach wie vor gibt es aber Traditionen, die die ursprüngliche Essenz dieser Kampfkunst aufrecht erhalten. Diese gehen aber in die Tiefe individueller Entwicklungsmöglichkeiten und nicht in die Breite eines Massenmarktes. Dennoch sind viele dieser Traditionslinien heute weitaus offener und zugänglicher für den wirklich Interessierten, und darin besteht meines Erachtens die Hoffnung für die Zukunft des Taijiquan.
Quelle http://www.taiji-quan.com/html/evolution.html
Sehr schöner Beitrag zu einem sehr wichtigen Thema im Bereich des Taiji.
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