12.05.2014

Beim Arzt

Die beiden Schulen sind sich nicht ganz grün. Wenn man in der einen von der anderen redet, dann tun sie jeweils so, als wüssten sie nicht, was wir da meinen. Oder sie sagen, das sei schon in Ordnung, kein Problem. Wir aber tun so, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, in der einen zu wohnen und zu trainieren, und in der anderen einzukaufen oder eben einen Termin beim Arzt zu machen. Der erste Termin wurde wegen ungenauer Absprachen von uns verpasst, was nicht gut angesehen wurde. Heute nun waren wir pünktlich, hatten dafür ein Teil unseres Trainings ausfallen lassen und wissen noch nicht, wie Meister Zhong darauf reagiert.
Die junge Frau, welche uns empfängt und wissen will, woran es denn fehlt, wie sich später herausstellt ist sie die Tochter des Doktors, spricht nur Chinesisch. Deshalb wird ein freundlicher kleiner Mann in kurzen Hosen herbeigerufen, eine chinesische Ausgabe von Woody Allen, der ständig nervös nickt beim Sprechen und  übersetzen kann. Nachdem der Fall geklärt ist, besser, einmal in einer Version vorgetragen, gehen wir mit dem zwischenzeitlich erschienenen Doktor in das kleine Behandlungszimmer. Der Arzt, dessen Gesicht mich an die Sun Zi. Mio Briefmarke erinnert, redet, der Übersetzer stockt und bittet ihn, seine Tochter zu rufen. Er kann den Mann nicht verstehen, er spreche einen Henan Dialekt, aber die Tochter sei des Mandarins mächtig. So erklären wir noch einmal Woddy Allen den Fall, der spricht nickend zur Tochter, welche dann den Vater verständigt. Die Antwort des Vaters geht über die Tochter zu Woddy Allen, dessen englische Interpretation mitunter von mir noch einmal an die Patientin verdeutscht werden muss. Ob das alles dem Verständnis geholfen hat, wage ich zu bezweifeln. Aber letztlich besteht die Diagnose ja aus dem Fühlen der diversen Pulse und der Betrachtung der Zunge.
Nach der chinesischen Medizin sind an beiden Handgelenken je sechs verschiedene Pulse zu fühlen, drei oberflächliche und drei tiefe. An ihrer unterschiedlichen Art zu schlagen, die klassischen Beschreibungen kennen zitternd, zögernd, wie Hammerschläge oder wie auf Wasser treibender Bambus, erkennt der Arzt die Zustände des Qi in den einzelnen Meridianen, woraus er auf den Allgemeinzustand schließen kann. Die Diagnose kann dann zum Beispiel ein Mangel oder eine Fülle an Qi, im Yang oder Yin der inneren Organe sein.
Nun wird nach Rezept des Arztes ein Dekokt erstellt, welches aus vierzehn verschiedenen Zutaten besteht, darunter auch ein aus fossilen Knochen geriebenes Pulver, wie uns Woddy Allen nickend erklärt. Auf meine Frage nach der Bezahlung wird die Diagnose als kostenlos geführt und für die Medizin bekommen wir einen Freundschaftspreis.
Als ich in den Neunzigerjahren meine erste Reise nach China unternahm, besuchten wir die obligatorischen Produktionsstätten, an denen die produzierte Ware direkt erworben werden konnte. Später fuhren wir auch in einen sogenannten Freundschaftsladen, Einkaufsstätten für Ausländer, in denen die Ware aus den Produktionsstätten zum dreifachen Preis angeboten wurde.

Einnahme der Medizin

Das fertige Medikament befindet sich ein einer anderthalb Liter Colaflasche und sieht aus, als habe man die Restbrühe einer Speißwanne hinein gegeben. Ein dunkles Graugrün mit Tendenz zu faulig. Davon soll zwei mal täglich ein Viertel der Flasche erwärmt werden und zusammen mit einem etwa gleichfarbenen Pulver, dem Zement, getrunken werden. Nachdem wir in unserer provisorischen Bleibe den Vorgang zunächst gut durchgeplant haben, gehen wir über zur Realisation.
Das erwärmte Getränk wechselt in ein Trinkgefäß, jedoch allein der Gedanke, es über die Lippen bringen zu müssen, löst bei der Patientin ein widerwilliges Schütteln aus. Zwischen den einzelnen Schlucken werden hypothetische Verschlimmerungen diskutiert. Schließlich und endlich bringen wir den allergrößten Teil die Medizin von außen nach innen, spülen alle Gerätschaften gut aus und hoffen, den morgigen Tag unbeschadet zu erleben.

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