08.02.2022

Was verrät das chinesische Schriftzeichensystem über China?

Ein etwas langer aber durchaus lesenswerter Artikel über die chinesische Schrift und das Problem, sie durch eine Lateinische Schrift zu ersetzen, erschienen am 05.02.2022 in der NZZ

Kunstinstallation «Ein Buch vom Himmel» von Xu Bing an der Contemporary Art in Peking. 
Walter Bibikow / Imago


Die chinesische Schrift sei das komplizierteste System von Formen, welches die Menschheit geschaffen habe, und das markanteste Alleinstellungsmerkmal der chinesischen Kultur, so der Heidelberger Professor für Kunstgeschichte Ostasiens Lothar Ledderose. Ein umfassendes Wörterbuch des Chinesischen kennt etwa 70 000 verschiedene Schriftzeichen.

Selbst hochgebildete Literaten beherrschen aktiv gerade einmal ein Zehntel davon. Die meisten aber kennen nur 2000 bis 3000. Da aber diese Zeichen aus einem kleinen Repertoire von etwa einem Dutzend unterschiedlich geformten Strichen bestehen – mit denen etwa 200 Module gebildet werden, aus denen dann die Schriftzeichen zusammengesetzt sind –, entsteht eine allgemeine Vertrautheit mit sämtlichen Schriftzeichen. Die Texte sind jedem, der sich einmal auf dieses Schriftsystem eingelassen hat, vom Erscheinungsbild her vertraut und überdies grundsätzlich zugänglich, gegebenenfalls über ein Wörterbuch. So bleibt alles, was in den letzten mehr als zweitausend Jahren geschrieben wurde, prinzipiell lesbar. Oder ist dies nicht doch eine Illusion?

Bei aller Idealisierung, welche dieses Zeichensystem erfahren hat, von Gottfried Wilhelm Leibniz bis Ezra Pound, haben nämlich Linguisten gezeigt, dass diese logografische Schrift in mehrfacher Hinsicht für die Verschriftung einer Sprache unzureichend und einer Alphabetschrift unterlegen ist. Daher auch haben Chinas Reformer in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Einführung einer Lateinschrift gefordert.

Einer der prominentesten ihrer Vertreter war der grosse Schriftsteller Lu Xun 魯迅 (1881–1936). Noch 1936 betonte Mao Zedong gegenüber seinem Biografen Edgar Snow: «Wir glauben, dass wir früher oder später ohnehin das chinesische Schriftzeichensystem aufgeben müssen, wenn wir eine neue Kultur schaffen wollen, an der die Massen voll und ganz teilhaben.» Warum hatte dann mit so vielen Befürwortern das Vorhaben doch keinen Erfolg?

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