26.09.2008

Lilo in Wudangshan, die 5.

die Freude über das schöne Wetter dauerte nur kurz an, ich habe doch mehr Muße als mir lieb ist, so dass ich nun den nächsten Teil meines Berichts abliefern kann:

Am Abend mache ich noch meinen üblichen Spaziergang zum Zixiaogong um dort bei den Ständen Wasser, Kekse (wg. der Feuchtigkeit...) und noch ein Fläschen Bier zu erstehen. Auf dem Weg dorthin begegnet mir eine Handvoll ausgelassener Nonnen, die miteinander lautstark herumalbern und versuchen, auf der Leitplanke zu balancieren. Ich muss sagen, meine Einstellung zu den Angehörigen des Klerus hat sich schon sehr geändert, seit dem ich hier bin.
Von strenger, lebenslustfeindlicher Frömmigkeit ist hier wenig zu spüren, auch wenn die Bewohner des Klosters sehr wohl ernsthaft ihren daoistischen Glauben leben. Es gibt hier zwei Kategorien, erkennbar an ihrerunterschiedlichen Haartracht: den Mönchen und Nonnen, die die Haare zu einem einfachen Knoten gebunden haben, ist es erlaubt, Fleisch zu essen, Alkohol
zu trinken und auch zu heiraten. Die Herrschaften, die eine Art steifen schwarzen Hut auf dem Kopf tragen, dürfen all dies nicht. Im Zixiaogong leben Mönche, Nonnen, Gemäßigte und - mangels besserer Kenntnis will ich sie mal so nennen - Spaßbremsen einträchtig unter einem Dach. Die ausgelassenen Damen gehörten eindeutig zur ersten Kategorie.


Angekommen bei den Verkaufsständen gehe ich zielsicher zu dem "Laden" von Frau Qu, der verkaufstüchtigsten aber auch schlitzohrigsten Verkäuferin von allen. Wir kennen uns schon lange, haben auch schon einige Sträuße miteinander ausgefochten, wenn ihre Preisgestaltung mal wieder etwas arg fantasievoll war. Sie hat nicht nur "alles", sie kann auch noch "alles" besorgen. Bei Sonderwünschen legt sie die Stirn in Falten, holt tief Luft, zeigt mit den Fingern eine Zahl an. O.K., in so vielen Tagen ist das gewünschte da. "You name it, she gets it" - das ist unsere Frau Qu.

Die Preise für Bier und Wasser müssen bei jedem Aufenthalt neu ausgehandelt werden. Diesmal ruft sie zunächst 5 Yuan für eine Flasche Wasser auf - das ist unverschämt, im Mai habe ich 3 Yuan bezahlt. Naja, die steigenden Rohstoffpreise (Wasser! Hier in Wudang!! Ha, Ha!!!), die Inflation, überhaupt: die Globalisierung...ich verstehe schon. Diesmal einigen wir uns auf 4 Yuan, Bier wie immer 2, damit kann ich leben. Wenn Yürgen in 2 Wochen kommt, zahlt er wahrscheinlich wieder 3 Yuan, er ist einfach der bessere Händler. Kann ich mit leben.
Dafür ist Frau Qu einfach nett und pfiffig, und das ist ja auch etwas wert.

Als ich zum Abendtraining in der Akademie einlaufe, stelle ich fest, dass Guan sich von den überall zum Trocknen ausgelegten Teppichen hat inspirieren lassen. Er komplimentiert uns auf den Boden: Stretching auf Wudang-Art. Aua.
Yi Ming macht uns vor, wie wir die Beine elegant umeinander winden sollen, seitlich hinter dem Kopf vorbei nach oben zerren - mein Gott, ich bin einfach zu alt für so was. Die anderen, obwohl meist deutlich jünger als ich, allerdings auch. Nach einer Stunde Quälerei inklusive Spagat, Brücke und sonstigen Foltermethoden sind wir entlassen zum "normalen" Training.
Guan, der dem Treiben grinsend zugeschaut hat, kündigt an, dass wir das jetzt öfters machen, bocksteif wie wir sind... herzlichen Dank, Sifu.


23.09.08


Heute Morgen werde ich wieder vom vertrauten Plätschern geweckt. Ich fluche leise, dass ich gestern nicht gleich sämtliche Schmutzwäsche durch's Wasser gezerrt habe, wer weiß, wann die Gelegenheit zum Trocknen wieder kommt.
Wehmütig denke ich an den alten Spruch in meinem Poesie-Album "Ärgere dich nicht, dass es vorbei ist, sondern freue dich, dass es gewesen ist". Ganz vorsichtig taste ich mich aus dem Bett, das gestrige Training hat reichlich Spuren hinterlassen, mir tun alle Knochen, Muskeln und Sehnen höllisch weh und ich denke kurz daran, mir Hilfe von der deutschen Pharma-Industrie zu verschaffen, so ein Häppchen Diclofenac wäre jetzt wirklich nicht schlecht.
Ich lass' es dann aber, will kein Spielverderber sein, beim Frühstückstisch wird das lustige Spiel "Wer jammert am lautesten?" gespielt, und da will ich ja überzeugend mitmachen.

Beim Vormittagstraining erkundigt sich Guan kurz, ob wir die Stretching-Session gut überstanden haben. Keiner sagt etwas. Dann ist es ja gut. Weiter im Programm. Guan will uns wohl ernsthaft fit und beweglich bekommen, jedenfalls werden jetzt die Pratzen ausgepackt. Kick-Training unter verschärften Bedingungen. Die Tritt-Übungen beginnen immer ganz harmlos: lockeres Treten in Kopfhöhe, mit der Ferse, mit dem Spann, das ganze seitlich und auch kreisförmig vor dem Körper. Dann folgen die etwas heikleren Geschichten wie Drehkicks, Sprünge - gewunden, gerührt, geschüttelt, da muss man kerngesund sein. Nun also mit Pratzen. Jetzt ist nichts mehr mit locker in die Luft getreten, irgendwohin ziellos ins Nirgendwo...Yi Ming animiert uns gnadenlos, fester zu treten, genauer zu zielen...der geschundene Körper mag nun langsam wirklich mal ne Pause haben.
Selten habe ich das Trainingsende so herbeigesehnt. Zum Glück morgen nur am Vormittag Training, dann ist "Wochenende".

Nach dem Unterricht erzählt Guan, dass er gerne hätte, dass bei dem großen Kampfkunst-Wettkampf Ende Oktober auch eine Abordnung der Ausländer vorführt, um den Ruhm von Wudang zu mehren. Er schaut dabei Jen, Simon und mich auffordernd an. Ach, daher weht der Wind. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mir nicht sicher bin, ob das mit dem "Ruhm" so klappt, bin ich da auch leider nicht mehr hier. Guan ist enttäuscht - "wie, du fährst wieder nach Deutschland? Gefällt es dir hier nicht?". Depp.

Während ich am Nachmittag im Office sitze um schnell ein paar E-Mails zu schreiben, klingelt das Handy: Guan will wissen, ob ich vielleicht eine Massage haben möchte. Blöde Frage. Ist der Pabst katholisch? Ich packe hektisch mein Notebook ein, laufe Richtung Gästehaus, unterwegs begegne ich schon dem blinden Masseur, der von einer jungen Dame geführt wird. In meinem
Zimmer strecke ich mich auf meinem Zweitbett aus, der Mann tastet mich kurz ab, mit schlafwandlerischer Sicherheit findet er sofort die markanten Stellen und legt los. Eine Stunde lang Anmo nach allen Regeln der Kunst -wunderbar (auch wenn es manchmal die Erleichterung darüber ist, dass der Schmerz nach allzu herzhaften Handgriffen nachlässt). Es stellt sich heraus,
dass der Masseur auch ein paar Brocken ausländisch aufgeschnappt hat und nachdem er gefragt hat, woher ich komme, begrüßt er mich nochmals mit einem freundlichen "Guten Tag" und fordert mich immer wieder auf, zu "entspannen".
Der Mann ist mein Held des Tages, mein Retter in der Not. Ich lasse mir gleich die Telefonnummer geben und wenn ich noch zwei weitere Leute finde, die sich massieren lassen wollen - und das dürfte nicht weiter schwer sein - macht er sich gerne noch mal auf den Weg in die Berge.

Jetzt ein Sprung in die Badewanne, ein Feierabendbier, dann ab in's Bett...ja, ja, schön wär's - jetzt ist erstmal Abendtraining angesagt, aber nach dieser wunderbaren Massage ist das alles nur noch halb so wild und die Aussicht auf "Wochenende" treibt mich noch mal zu Höchstleistung an. Guan dummerweise auch. Er findet, dass er mir schnell noch auf die Husche unbedingt eine Denksportaufgabe für die freien Tage geben muss, eine richtig schwierige gezwirbelte Drehaktion, die ich einfach nicht kapiere. Ich verzweifle fast, Yi Ming macht meinetwegen sogar nach Trainingschluss noch Überstunden, bis ich es endlich begriffen habe. Prima, da habe ich ja was zu tun. Morgen fahre ich aber erst mal mit Alexandra und Youki nach Shiyan und
wenn ich dann noch Energie habe, dann können wir weitersehen.

24.09.08

Bevor wir in's Wochenende entlassen werden, gibt's noch einmal ein erfrischendes Morgentraining. Damit es uns nicht zu langweilig wird, lässt Guan sich da immer wieder etwas Neues einfallen. Gerne bespaßt er uns mit kleinen Spielchen, wie Wettrennen durch den ehrwürdigen Zixiaogong mit all' seinen Treppen, diversen Ballspielen, die ich schon als Kind leidenschaftlich gehasst habe...hier gibt es aber keine Ausreden, jeder hat da mitzumachen. Heute steht Fußball auf dem Programm. Ich kann meine Begeisterung kaum bremsen. Zuhause gehe ich ja schon gerne in's Stadion um unsere Jungs vom FSV Mainz 05 zu unterstützen und gebe dem Trainer auch mal lautstark den einen oder anderen wertvollen Hinweis zur
Spielgestaltung...aber selber machen? Naja. Muss sein. Ich versuche, einerseits dem Ball möglichst aus dem Weg zu gehen und andererseits geschäftig hin- und herzurennen, damit es nicht so auffällt, was auch ganz gut gelingt. Ich gerate einmal sogar aus Versehen in Ballbesitz und es gelingt mir, die Kugel ziemlich genau zwischen die beiden Backsteine, die das "Tor" markieren, zu schießen. Da Guan aber die Spielregeln mal wieder höchst eigenwillig modifiziert hat, zählt das Tor nicht, weil der Ball nicht am Boden war...oder so.... Egal, ich habe meine Schuldigkeit getan und warte jetzt in Deckung wie ein Hund bei Gewitter, bis es endlich vorbei ist.

Glücklicherweise endet das Ganze weitgehend verletzungsfrei - bis auf die angeschossene blutige Nase von Jen, die mit vollem Körpereinsatz gespielt und den Ball voll ins Gesicht bekommen hat. Wenn man bedenkt, unter welchen Bedingungen wir hier unterwegs sind, ist das schon erstaunlich: das Spielfeld - bröckelige Zementplatten mit vielen Löchern, bei Feuchtigkeit ziemlich rutschig, ein Teil des Hofes ist abgesperrt, weil Einsturzgefahr der Plattform besteht. Die professionelle Absperrung besteht aus einer ganzen Reihe roter Pilgerbändchen, die Guan kurzerhand im Tempel von einem der Steinlöwen abgenommen und aneinandergeknüpft hat. Der abgesperrte Bereich darf unter gar keinen Umständen betreten werden. Es sei denn, der Fußball landet dort.

Immer wieder tauchen Gäste auf, die sich hier kurz umschauen um zu Hause ihren Kindern und Kindeskindern - so zumindest meine Interpretation - erzählen zu können, dass sie auf dem weltberühmten Wudang Shan waren und dort Taiji gelernt haben. Wenn auch nur für eine Stunde. Ob dieses winzige Detail zu Hause dann auch Erwähnung findet? Ich wage, es zu bezweifeln.

Ein solcher Gast ist gerade mal wieder eingelaufen. Er erzählt, dass er aus Slowenien sei und sich kurz korrigieren lassen will. Nachdem unser Training beendet ist, widmet Guan sich dem Gast. Gemeinsam mit Alexandra stehe ich in sicherer Entfernung und schaue dem Treiben zu. Nach 5 Minuten atemlosen Schweigens stellt Alexandra die Frage, die sich mir auch schon aufgedrängt hat: "Was tut der Mann da?" Gute Frage. Guans Körpersprache spricht Bände. Mit verschränkten Armen und steinernem Gesichtsausdruck betrachtet er sich die Vorführung, weiß offensichtlich gar nicht, wo er anfangen soll.

Grundsätzlich ist hier jeder willkommen, egal in welchem Übungsstadium er ist. Jeder wird individuell nach seinen persönlichen Möglichkeiten betreut. Allerdings gilt das nur, solange die Bereitschaft besteht, wirklich ernsthaft zu lernen. In unserer Gruppe ist das bei den meisten so, deshalb geben sich die Lehrer auch unendlich viel Mühe und verlieren eigentlich nie die Geduld. Nun gibt es auch bei uns einige Mitschüler, die trotz deutlicher Hinweise die Spielregeln einfach nicht beachten und bei denen man sich schon die Frage stellt, warum sie eigentlich hier sind. Dass die Aufmerksamkeit für diese Kandidaten nicht gar so groß ist, versteht sich von selbst. Ein wichtiges Indiz für die Ernsthaftigkeit ist natürlich auch, wie viel Zeit ein Schüler bereit ist, für seine Ausbildung zu investieren. Eine Stunde erscheint in diesem Zusammenhang dann doch ein bisschen wenig.

Gut, ich habe auch mit 3 Tagen angefangen. Und dann eine Woche. Und dann zwei Wochen. Und dann 2,5 Wochen. Und jetzt ein Monat...
Jetzt aber los Richtung Shiyan!

...und was wir dort erlebt haben, erfahrt ihr, wenn ihr auch in der nächsten
Woche wieder einschaltet, wenn es heißt: "Neues aus Wudang Shan"

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