18.11.2025

Warum Tai Chi sich vom Kampf entfernt hat: Geschichte, Kultur und die Spaltung der Kampfkunstidentität

Das Folgende ist eine Zusammenfassung des Artikels "Why Tai Chi Drifted from Combat: History, Culture, and the Martial Identity Divide" von dem Blog daoofthewarrior.blogspot.com/

Einleitung – Eine Kampfkunst, die ihren Schlag vergaß

  • Der Name Taijiquan (太极拳) bedeutet wörtlich „Supreme Ultimate Fist“ („Faust der höchsten Vollendung“). Das Wort „Quan“ (拳) steht eindeutig für Kampfkunst. Trotzdem sehen sich viele Tai-Chi-Praktizierende heute nicht mehr als Kämpfer. 

  • In Parks von Shanghai bis San Francisco üben viele Tai-Chi, beschreiben es als „bewegte Meditation“, „Energiearbeit“ oder sanfte Übung für Ältere. Für sie hat das Wort „martial“ wenig Bedeutung. 

  • Diese Distanz zum Kämpfer-Dasein ist nicht bloß ein Wortproblem, sondern eine Folge von über 100 Jahren sozialer, kultureller und politischer Umgestaltung. 

  • Ursprünglich war Taijiquan eine pragmatische Kampfkunst, entwickelt in dörflichen Clans, verwendet bei Schutzaufgaben, Milizen oder in privaten Duellen. Im Laufe der Zeit wurde es zu einer Gesundheitsmethode, einem Symbol nationaler Kultur und einem Weg spiritueller Selbstentfaltung umgedeutet. 

  • Heute enthält die Praxis zwar noch Formen und Terminologie, die an den Kampf erinnern, aber viele Praktizierende identifizieren sich nicht mehr als „Krieger“. 

  • Der Artikel identifiziert drei große historische Transformationsphasen:

    1. Die Zeit der Republik China

    2. Die Mao-Ära mit staatlicher Standardisierung

    3. Die Verbreitung im Westen als Wellness- und New-Age-Praxis 

  • Gleichzeitig gibt es kleine Bewegungen, die versuchen, die Kampftradition wiederzubeleben. 

  • Insgesamt ist der Wandel nicht nur ein „Verfall“, sondern eine strategische Anpassung: Taijiquan überlebte, weil es sich von der Schlacht entfernte. 

  • Die Frage heute lautet: Kann Taijiquan beide Seiten – Heiler und Kämpfer, ruhigen Fluss und starke Strömung – wieder zusammenbringen? 


1. Taijiquan im republikanischen China: Gesundheit & Nation

  • In den letzten Jahren der Qing-Dynastie und der frühen Republik hatte China mit enormen politischen, sozialen und militärischen Krisen zu kämpfen. 

  • Reform-Intellektuelle sahen die traditionellen Kampfkünste oft als rückständig, mit Verbindungen zu Geheimgesellschaften oder religiösen Gruppen.

  • Um Martial Arts gesellschaftlich akzeptabel zu machen, wurden sie umgedeutet: nicht mehr nur Kampfmethoden, sondern auch „wissenschaftliche“ körperliche Übungen. 

  • Taijiquan eignete sich besonders gut für dieses Umdenken – seine langsame, fließende Bewegung passte gut zum Bild von gymnastischer, therapeutischer Übung.

  • Theoretische Elemente wie Yin-Yang, das I Ging oder Daoismus konnten so mit Gesundheit und moralischer Kultivierung verbunden werden. 

  • Der Staat förderte Taiji im Rahmen des „Guoshu“-Programms („nationale Künste“). 

  • In Lehrbüchern wurde Selbstverteidigung zunehmend als Nebeneffekt dargestellt, nicht als zentraler Zweck. 

  • Wichtige Figuren in dieser Phase:

    • Sun Lutang: Kämpfer aus Xingyiquan & Baguazhang, der später Taijiquan studierte (Hao-Stil) und eine spirituelle Auslegung von Taiji propagierte – Lebenspflege, spirituelle Kultivierung wichtiger als Kampf. 

    • Yang Chengfu: Veränderte die körperliche Form des Taiji stark – er verlangsamte die Bewegungen, hob die Stände, streichte Sprünge und explosive Aktionen, und legte viel Gewicht auf Entspannung („Songsong“) und flüssige Bewegung. 

  • Seine Lehre (z. B. in seinem Handbuch von 1934) war sowohl gesundheitlich als auch meditativer Natur, aber weiterhin mit Kampfprinzipien durchzogen, auch wenn diese für viele verborgen blieben.

  • Kritiker gab es dennoch: z. B. Wang Xiangzhai, Begründer des Yiquan, warf den Taiji-Praktizierenden vor, dass sie die Kampfkunst zu einer reinen Performance gemacht hätten. 

  • In städtischen Elitenkreisen wurde Taijiquan zunehmend zu einem Symbol für Gesundheitsvorsorge, Selbstkultivierung und kulturelle Verfeinerung – weniger als Kampfkunst. 


2. Maoistische Ära: Wushu, Sport & Massentauglichkeit

  • Nach 1949 (Gründung der Volksrepublik China) stand die neue Regierung vor dem Problem, dass traditionelle Kampfkünste mit feudalen Strukturen, Geheimbünden und bürgerlichen Eliten verbunden waren. 

  • Man entschied sich, Wushu (武术) zentral zu kontrollieren und in eine Massenbewegung zu verwandeln. 

  • 1956: Einführung der „24-Form Taijiquan“ durch das chinesische Sportkomitee. Diese vereinfachte Variante entfernte viele schwierigere Elemente (tiefe Stände, Sprünge) und war so gestaltet, dass sie für breite Bevölkerungsschichten lernbar war. 

  • Die neue Form war ausdrücklich für Gesundheit, Zugänglichkeit und kulturellen Stolz gedacht – nicht für den Kampf. 

  • Gleichzeitig wurde Taiji in den Sport-Wushu-Wettkampf integriert: Formen wurden auf Ästhetik, Gleichgewicht und Schwierigkeit benotet. 

  • Push-Hands“ (Tuishou) wurde zum Sport mit starken Beschränkungen: das Ziel war eher das Ausbalancieren als das Schlagen, und viele Formen von Schlägen wurden verboten. 

  • Öffentlich wurde Taiji zunehmend als ungefährliche, sanfte Form wahrgenommen. Der Kampfaspekt verschwand aus dem Alltagsbild. 

  • Während der Kulturrevolution (1966–1976) wurden viele traditionelle Lehrer unterdrückt, da sie als Teil alter, „reaktionärer“ Kultur galten. 

  • Doch paradoxerweise galt Taiji dem Regime bald als harmlos und ideologisch unbedrohlich, sodass es weiter praktiziert werden durfte – häufig mit patriotischer Umdeutung. 

  • Bis Ende der 1970er war Taiji schon so sehr mit Massen-Fitness und Show verbunden, dass nur noch wenige junge Männer es als Kampfsport betrachteten – stattdessen wandten sich viele modernen Kampfsportarten zu, z. B. Sanda (Kampf-Wushu). 

  • Dennoch: In einigen traditionellen Familienclans (z. B. Chen-Stil in Chenjiagou) wurde weiterhin das komplette Curriculum mit Waffen, Kampf und freiem Sparring gepflegt. 

  • Auch in Wu- und Yang-Linien existierten weiterhin Anwendungen, aber mehr im Verborgenen oder in Exil-Gemeinschaften. 

  • Der Effekt: Für einen Großteil der Bevölkerung wurde „Tai Chi praktizieren“ gleichbedeutend mit sanfter Gymnastik, nicht mehr mit Kampfkunst. 


3. Verbreitung im Westen: Wellness-Marke & kulturelles Symbol

  • In westlichen Ländern kam Tai Chi auf eine andere Art an als andere Kampfkünste wie Judo, Karate oder Taekwondo: nicht über Militär oder Wettkampf, sondern durch kulturellen Austausch, Exilgemeinschaften und einzelne Lehrer. .

  • Viele Pioniere im Westen betonten nicht den Kampf, sondern Gesundheit, Bewegung und innere Harmonie. .

  • Beispiele:

    • Sophia Delza, eine Tänzerin, die Wu-Taiji in Shanghai studierte, zeigte Taiji im Museum of Modern Art in New York und beschrieb es als harmonische Bewegung von Körper und Geist. .

    • Kuo Lien-ying unterrichtete in San Francisco, hatte Kampferfahrung, aber viele seiner westlichen Schüler interessierten sich mehr für die ruhigen, meditativen Aspekte. .

    • Cheng Man-ch’ing, ein weiterer wichtiger Lehrer: Er kürzte eine Form auf 37 Haltungen, betonte Entspannung, Kooperatives Push-Hands und sagte, dass man zwar Kampf trainieren könne, aber dafür zehn Jahre brauche – die gesundheitlichen Vorteile hingegen seien sofort spürbar. .

  • Seine Art, Taiji zu unterrichten, zog nicht Kämpfer an, sondern Künstler, Intellektuelle und Menschen, die an Selbstheilung, Meditation oder ganzheitlicher Entwicklung interessiert waren. .

  • Im Westen wurden Wettkämpfe oft nicht in voller Kampfform geführt, sondern es dominierten eher Formen, sanfte Partnerübungen und gesundheitliche Praxis. .

  • Mit der Zeit veränderte sich auch die Sprache: Im Englischen wurde häufig einfach „Tai Chi“ gesagt – ohne „Chuan/Quan“, wodurch die Kampf-Assoziation verlorenging. .

  • Für viele Praktizierende im Westen war es nicht mehr selbstverständlich, sich als „Kampfkünstler“ zu sehen – der Fokus lag auf Wohlbefinden, Ausgeglichenheit und innerer Entwicklung. .


4. Psychologie & Philosophie: Warum viele das „Kämpfer-Sein“ ablehnen

  • Der Wandel in der Geschichte erklärt viel – aber um zu verstehen, warum viele Praktizierende heute aktiv den „Krieger“-Status ablehnen, muss man auch philosophische und psychologische Aspekte anschauen. .

  • Philosophisch: Taiji-Klassiker sprechen davon, kaum Kraft einzusetzen („vier Unzen, die tausend Pfund ablenken“), von Nicht-Handeln (wu wei) und Harmonie (he). Diese Ideen sprechen Menschen an, die Gewalt, Wettbewerb und Dominanz ablehnen. .

  • Viele sehen ihre Praxis nicht als Kampfkunst, sondern als Weg zu innerer Ruhe, Selbstbeherrschung und Gelassenheit – nicht als Training, um einen Gegner zu besiegen. .

  • Psychologisch: Kampftraining ist mit Risiko verbunden – Angst, Fehler, Konfrontation. Nicht jeder will sich dem stellen. Taiji bietet eine „sichere Zone“, um intern zu arbeiten, ohne ständig im Wettkampf zu sein. .

  • Übungen wie kooperatives Push-Hands geben zwar ein Gefühl für Sensibilität, Gleichgewicht und Kraft, sind aber weniger bedrohlich als echten Kampf. .

  • In einem solchen Umfeld kann eine kognitive Dissonanz entstehen: Man schätzt das Erbe des Kampfes, hat aber noch nie unter Druck bewiesen, dass die Techniken wirklich funktionieren. Um diesen Widerspruch aufzulösen, verschiebt man oft die Ziele. .

  • So wird Taiji manchmal „ein Weg, innere Dämonen zu bekämpfen“, „Selbstverteidigung gegen Stress“ oder „eine so tödliche Kunst, dass man sie nicht im Wettkampf einsetzen kann“. Das martialische Element bleibt eher metaphorisch. .

  • Außerdem spielt die soziale Herkunft eine Rolle: Viele moderne Taiji-Praktizierende stammen aus Bildungsschichten, die sich eher als Kultivierte, Intellektuelle oder „Holistische“ sehen – nicht als Krieger. .

  • In typischen Taiji-Kursen gibt es nicht viel Sparring oder Leistungsorientierung. Der Fortschritt wird nicht durch Siege gemessen, sondern durch innere Erfahrung, Struktur, Achtsamkeit usw. .

  • Deswegen empfinden viele es als unpassend, sich „Kampfkünstler“ zu nennen: Ihre Praxis ist mehr geprägt von Heilung, Meditation, Gemeinschaft und Selbsterfahrung als von Wettkampf. .


5. Gegenbewegung: Taiji wieder als Kampfkunst reclaimen

  • Trotz der breiten Umdeutung von Taiji gibt es klare Gegenströmungen, die versuchen, die Kampfprinzipien wiederzubeleben. .

  • Insbesondere der Chen-Stil spielt hier eine wichtige Rolle: Einige Lehrer (z. B. Chen Xiaowang, Chen Zhenglei) unterrichten nicht nur die Formen, sondern auch „Chan Si Jin“ (Seidenfaden-Kraft), Anwendungen, Würfe, Gelenkhebel, Schlagübungen, rigoroses Partnertraining. .

  • Ein weiterer Ansatz ist: Gesundheit und Kampftechnik sind keine Gegensätze, sondern können sich gegenseitig stärken. Starke Struktur + gute Körpermechanik + innere Kraft helfen im Kampf; gleichzeitig helfen Qigong und Formarbeit bei Regeneration und Bewusstsein. .

  • Einige Taiji-Praktizierende im Westen trainieren nicht nur Tai Chi, sondern cross-trainieren z. B. in Boxen, Wrestling oder BJJ (Brazilian Jiu-Jitsu), und integrieren Taiji-Prinzipien aktiv in den Wettkampf oder das Sparring. .

  • Beispiele: Der ehemalige MMA-Kämpfer Nick Osipczak hat Taiji-Konzepte wie „Nachgeben“, „Haften“ (Sticking) und Ganzkörper-Kraft ins Cage-Kampftraining übernommen. .

  • In manchen Schulen wird Taiji wieder als vollwertige Kampfkunst verstanden: Innere Kraft wird mit mechanischer Kraft kombiniert, Struktur und Taktik geübt, und gleichzeitig bleibt das Pflegeelement (Qigong, Form) bestehen. .

  • Für diese Praktizierenden ist es völlig natürlich, sich als „Kampfkünstler“ zu verstehen, ohne die meditativen oder gesundheitlichen Aspekte aufzugeben. .

  • Sie versuchen zu einer „ganzen“ Taiji-Identität zurückzufinden – mit beidem: Kampf und Heilung. .


Fazit

  • Der Artikel argumentiert, dass der Wandel von Taijiquan von Kampfkunst zu Wellness-Übung kein Zufall war, sondern das Ergebnis strategischer Anpassungen über Jahrzehnte. 

  • Historisch wurde Taiji umgedeutet: In der Republik als Mittel zur Nationenkultur, unter Mao als Massen-Sport, im Westen als sanfte, spirituelle Praxis. 

  • Gleichzeitig gibt es jedoch immer noch Strömungen, die das kampforientierte Erbe bewahren und neu beleben – und es gibt auch Modelle, die beide Seiten (Heilung + Kampf) integrieren. 

  • Die zentrale Frage für moderne Praktizierende lautet laut Artikel: Wie wollen sie ihre Beziehung zu Taiji gestalten? Rein als Gesundheitsübung? Oder als echte Kampfkunst? Oder beides? 

  • Eine bewusste Kombination beider Aspekte („prepare for war, do not seek war“) könnte Taijiquan seiner vollen Tiefe wieder näherbringen. 



14.07.2025

28 Figuren Sanfeng Taijiquan

 动作名称 28er Form Namen der Bewegungen


预备式(yu bei shi) Vorbereitung

Teil 1
1)起式(qi shi) Sich erheben
2)退步掤式(tui bu peng shi) Schritt zurück um direkt zu schlagen
3)揽雀尾lan que wei) Den Sperlingsschwanz fassen
4)正单鞭(zheng dan bian) gerade einfache Peitsche

Teil 2
5)提手上式(ti shou shang shi) Hände heben und hoch steigen
6)白鹤亮翅(bai he liang chi) Der weiße Kranich spreizt die Flügel
7)左搂膝拗步(zuo lou xi ya bu) Knie streifen bei gedrehtem Schritt
8)手挥琵琶(shou hui pipa) Die Pipa spielen
9)上步搬拦捶(shang bu ban lan chui) Hoch steigen, ablenken, abwehren und schlagen
10)小擒拿手(xiao qin na shou) fangen und halten
11)右踢腿(you ti tui) Tritt mit rechtem Bein
12)左打虎式(zuo da hu shi)  Den Tiger schlagen - links 

Teil 3
13)右打虎式(zuo da hu shi) Den Tiger schlagen - rechts
14)左斜搂膝(zuo lou xi ao bu) Knie streifen bei gedrehtem Schritt
15)野马分鬃(ye ma fen zong) Dem Wildpferd die Mähne teilen
16)正单鞭(zheng dan bian) Gerade einfache Peitsche
17)玉女穿梭 (yu nu chuan suo) Jademädchen am Webstuhl
18)正单鞭 (zheng dan bian) Gerade einfache Peitsche

Teil 4
19)下势 (xia shi) nach unten schlagen
20)上步七星(shang bu qi xing) Schritt vor und sieben Sterne bilden
21)退步跨虎(tui bu kua hu) Schritt zurück und den Tiger umarmen
22)双摆莲(shuang bai lian) Doppelter Lotus Kick
23)弯弓射虎 (wan gong she hu) Bogen spannen, den Tiger schießen
24)上步搬揽捶 (shang bu ban lan chui) Hoch steigen, parieren und schlagen
25)如封似闭 (ru feng si bi) Scheinbares Schließen
26)十字手 (shi zi shou) Hände kreuzen
27)抱虎归山 (bao hu gui shan) Den Tiger halten, in die Berge zurückkehren
28)收势 f(shou shi) Abschluss

23.06.2025

LuoShu und HeTu

 Die Hetu 河圖 „Karte des Gelben Flusses“ und die Luoshu 洛書 (auch 雒書 geschrieben) „Inschrift des Flusses Luo“ waren zwei kosmologische Diagramme im alten China. Sie wurden sowohl von Daoisten als auch von Konfuzianern verwendet und dienten dazu, den Zusammenhang der Hexagramme des Yijing 易經 „Buch der Wandlungen“ mit dem Universum und dem menschlichen Leben zu erklären. Sie werden auch in der Geomantie (Fengshui 風水) verwendet.

Die beiden Diagramme werden erstmals im Kapitel Guming 顧命 des konfuzianischen Klassikers Shangshu 尚書 „Buch der Dokumente“ erwähnt, wo es heißt, dass die drei kostbaren Jadesteine und die Hetu in der Östlichen Kammer aufbewahrt wurden. Es ist daher anzunehmen, dass die Hetu eine Art Jadestein war, dessen Textur als die acht Trigramme (Bagua 八卦) des Yijing interpretiert wurde.

Abbildung 1-2. Die Flusskarte und die Inschrift des Luo







Der Gelehrte Kong Anguo aus der Han-Zeit (206 v. Chr. – 220 n. Chr.), Autor eines Kommentars zum Shangshu, erwähnte als Erster die Legende eines Drachenpferdes (longma 龍馬), das aus dem Gelben Fluss kam. Sein Rücken soll die Form der acht Trigramme aufgewiesen haben. Das Diagramm auf dem Rücken des Pferdes war die sogenannte „Flusskarte“, die vom mythologischen Kaiser Fu Xi festgelegt wurde und in der Form der acht Trigramme erhalten geblieben ist.

Als glückverheißendes Omen soll das Pferd während der Herrschaft der tugendhaften Herrscher Yao 堯, Shun 舜 und Yu 大禹 regelmäßig erschienen sein. Konfuzius 孔子 beklagte, dass das wundersame Pferd (oft als „Einhorn“ übersetzt) zu seinen Lebzeiten nicht mehr erschien, was ein schlechtes Omen für unglückliche Zeiten war.

Die „Inschrift des Luo-Flusses“ wird erstmals im Buch Guanzi 管子 erwähnt. Darin heißt es, dass eine Drachenschildkröte (longgui 龍龜) den Luo-Fluss verließ, sodass auf ihrem Rücken eine Inschrift zu sehen war, genauer gesagt ein Panzermuster, das als die acht Trigramme in einer anderen Konstellation als auf dem Hetuinterpretiert werden könnte. Ähnlich wie das Drachenpferd erschien die Schildkröte in glücklichen Zeiten, als tugendhafte Herrscher das Reich regierten, und verschwand, als schlechte und selbstsüchtige Menschen die Welt beherrschten.

Beide Inschriften werden im Xici 繫辭-Kommentar zum Yijing erwähnt. Die weisen Herrscher lasen und interpretierten die „Flusskarte“ und die „Luo-Inschrift“ und gestalteten ihre Herrschaft nach den in den beiden Diagrammen enthaltenen Belegen. Im selben Text heißt es zwar auch, Fu Xi habe die Anordnung der Trigramme erfunden, nachdem er den Sternenhimmel und alle Dinge auf der Erde beobachtet hatte, doch bezieht sich dieser Text nicht auf die „Flusskarte“.

Die Geschichte der beiden Diagramme als Omen eines goldenen Zeitalters wird im Buch Baihu tongyi 白虎通義 aus der Han-Zeit wiederholt, und der Gelehrte Liu Xin 劉歆 (gest. 23 n. Chr.) sagte, die „Inschrift des Luo“ sei von Yu dem Großen gefunden worden, als er die Fluten zähmte. Er interpretierte diese Inschrift und gelangte zu Schlussfolgerungen über Zusammenhänge zwischen verschiedenen Elementen im Universum. Diese werden im Kapitel Hongfan 洪範 des Shangshu beschrieben. Während das Hetu mit den acht Trigrammen in Verbindung gebracht wird, bezieht sich das Luoshu in dieser Erzählung auf die Fünf Wirkphasen 五行.

Archäologische Funde aus den Yangshao-Kulturen 仰韶 und Dawenkou 大汶口 zeigen, dass die Muster in den beiden Diagrammen und in den Hexagrammen aus der Jungsteinzeit stammen. Die Zahlenverteilung ist zudem identisch mit der Zahlenverteilung in der sogenannten „Karte auf der Vorhersageschale der Großen Einheit der Neun Paläste“ (taiyi jiugong zhanpan太乙九宮占盤) aus der Zeit der Streitenden Reiche (5. Jh.–221 v. Chr.), die in Fuyang 阜陽, Anhui, gefunden wurde.

Wegen ihres rätselhaften Charakters wurden beide Karten in der apokryphen Interpretation der konfuzianischen Klassiker verwendet, die während der Han-Zeit ihre Blütezeit hatte. Das bibliografische Kapitel Jingjizhi 經籍志 der offiziellen Dynastiengeschichte Suishu 隋書 listet neun Textkapitel über das Hetu und sechs Kapitel über das Luoshuauf. Es verzeichnet ein Buch mit dem Titel Hetu 河圖. Es hatte einen Umfang von 20 (einschließlich des 24. Luoshujuan 梁 (502–557) verfasst wurde, ging aber bereits in der frühen Tang-Zeit 唐 (618–907) verloren. In der Bibliographie werden auch die Bücher Hetu wei 河圖緯 und Luoshu wei 洛書緯 erwähnt, apokryphe Texte mit einer Gesamtlänge von 45 Kapiteln.

Weitere in diesem Katalog erwähnte Bücher, von denen Teile bis heute erhalten sind, sind Hetu longwen (河圖龍文), Hetu kuodi xiang (河圖括地象), Hetu xiyao gou (河圖稽耀鉤), Hetu kaoling yao (河圖考靈曜) und Luoshu lingzhun ting (洛書靈準聼). Fragmente von 120 Hetu-Büchern sowie von etwa 20 Schriften an das Luoshu sind heute noch erhalten. Obwohl die Verfasser des Suishu behaupteten, diese Bücher seien zur Zeit der mythologischen Herrscher verfasst worden, ist es sicher, dass sie aus der Han-Zeit oder etwas später stammen.

Die Gelehrten der Tang-Zeit interessierten sich nicht besonders für die beiden Karten. Erst in der Song-Zeit (960–1279) erlangten sie wieder an Bedeutung. Der daoistische Gelehrte Chen Tuan 陳摶 (872-989) soll vom daoistischen Meister Mayi 麻衣道者 ein Drachenhoroskop (longtu 龍圖) erhalten und es an seine eigenen Schüler Zhong Fang 種放 (955-1015), Li Gai 李溉, Xu Jian 許堅, Fan Echang 范諤昌 und Liu Mu 劉牧 weitergegeben haben. Eine weitere Gruppe von Schülern bestand aus Mu Xiu 穆修 (979–1032), Li Zhicai 李之才 (980–1045) und dem Numerologen Shao Yong 邵雍 (1011–1077), einem der frühen Neokonfuzianer der Song-Zeit.

Der große Neokonfuzianer Zhu Xi 朱熹 (1130–1200) aus der südlichen Song-Zeit übernahm die von Shao Yong überlieferte Form der beiden Diagramme und verwendete sie für seine Interpretation des Yijing, das Zhouyi benyi 周易本義. Seine Diagramme sind in Abb. 1-2 zu sehen.

Interessanterweise wiesen Liu Mus zwei Diagramme lediglich die entgegengesetzte Anordnung der Trigramme auf wie Shao Yongs, sodass Shao Yongs Hetu Liu Mus Luoshu entsprach und umgekehrt.

Neben Shao Yongs und Zhu Xis Version gibt es das Yinyang yutu 陰陽魚圖, „Fischdiagramm von Yin und Yang“, eine sehr beliebte Version der Konstellation der acht Trigramme. Die Trigramme bilden den äußeren Rahmen und ein schwarzes (Yin) und weißes (Yang) Feld die Mitte. Die beiden Felder sind geschwungen (wie schwimmende Fische) und gehen ineinander über, um den ständigen Wechsel zwischen Yin und Yang im Lauf der Jahreszeiten auszudrücken. Es ist vielleicht das berühmteste der Trigrammdiagramme und wird in daoistischen Kreisen weithin verwendet, wo es zum Symbol des Daoismus wurde.

Abbildung 3: Das Fischdiagramm von Yin und Yang, umgeben von den acht Trigrammen


Numerologische Spekulationen waren unter den Neokonfuzianern weit verbreitet. In Zhu Zhens 朱震 (gest. 1138) Buch Zhouyi guatu 周易挂圖 heißt es, dass die weißen Kreise im Hetu-Diagramm eine ungerade Zahl (25) und die schwarzen Kreise eine gerade Zahl (20) ergeben, sodass die Gesamtsumme 45 beträgt. Im Luoshu-Diagramm sind es 25 weiße Kreise, 30 schwarze Kreise, sodass die Gesamtsumme 55 beträgt. Während Hetu die Theorie und Substanz (ti 體) hinter allen Dingen symbolisierte, die angeborene und angeborene (xiantian 先天, vorgeburtliche) Natur der Dinge, symbolisierte Luoshu den praktischen Aspekt (yong 用) und den Zustand der Dinge, wie sie waren und leben (houtian 後天, nachgeburtlich).

Die höchste Zahl des Hetu ist 10 (beachten Sie, dass die „Zehn“ auf zwei Linien über und unter der zentralen „Fünf“ verteilt ist). 1 und 6 drücken die Natur der Vorfahren (zong 宗, Himmlisches) aus, 2 und 7 den Weg (dao 道), 3 und 8 Freundschaft (peng 朋), 4 und 9 gegenseitige Unterstützung (you 友) und 5 und 10 Schutz und Sicherheit (shou 守).

Die höchste Zahl des Luoshu ist 9; Kopf ist 9, Füße ist 1, links ist 3, rechts ist 7, 2 und 4 sind die Schultern, 6 und 8 die Beine und 5 ist die Zahl des physischen Zentrums.

Das Hetu drückte auch geografische Richtungen aus: Jede der neun Regionen des Reiches (jiuchou 九疇, jiuzhou 九州) wurde durch ein Symbol der Karte repräsentiert. Die Ziffer 9 steht auch für die Neun Paläste (jiugong 九宮) der Erde, während die Ziffer 5 im Zentrum des Luoshu die Fünf Wirkphasen symbolisierte.

Konfuzianer der Qing-Zeit (1644–1911) wie Huang Zongxi 黄宗羲 (1610–1695) oder Hu Wei 胡渭 (1633–1714) widersprachen der kosmologischen Interpretation der Neokonfuzianer. In seiner Inschrift Wan Gongze muzhi ming 萬公擇墓志銘 ging Huang Zongxi davon aus, dass es sich bei Hetu und Luoshu um sehr grobe geografische Karten der Antike handelte. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Karten als theoretische Illustration des Universums für Prognosezwecke dienten. Die Elemente in der Karte könnten auch die Elemente symbolisiert haben, aus denen der Kosmos oder der menschliche Körper bestehen sollen.

Quellen:

Chen Yongzheng 陳永正 (ed. 1991). Zhongguo fangshu da cidian 中國方術大辭典, p. 37. Guangzhou: Zhongshan daxue chubanshe.

Gao Liushui 高流水 (1996). "Hetu luoshu 河圖洛書", in: Feng Kezheng 馮克正, Fu Qingsheng 傅慶升 (ed.), Zhuzi baijia da cidian 諸子百家大辭典, p. 894. Shenyang: Liaoning renmin chubanshe.

Zhao Fujie 趙馥潔 (1988). "Hetu luoshu 河圖洛書", in: Zhao Jihui 趙吉惠, Guo Houde 郭厚安 (ed.), Zhongguo ruxue cidian 中國儒學辭典, p. 755. Shenyang: Liaoning renmin chubanshe.

Zhou Guidian 周桂鈿 (1993). "Hetu luoshu 河圖洛書", in: Pang Pu 龐樸 (ed.), Zhongguo ruxue 中國儒學, vol. 4, p. 50. Shanghai: Dongfang chuban zhongxin.

Further reading:

Cammann, Schuyler (1960). "The Evolution of Magic Squares in China", Journal of the American Oriental Society, 80: 116-124.

Cammann, Schuyler (1963). "Old Chinese Magic Squares", Sinologica, 7: 14-53.

Ho Peng-Yoke (2005). "Chinese Number Mysticism", in Teun Koetsier, Luc Bergmans (ed.), Mathematics and the Divine: A Historical Study (Amsterdam etc.: Elsevier), 45-60.

Ho, Peng-Yoke (2003). Chinese Mathematical Astrology: Reaching Out to the Stars (London: RoutledgeCurzon).



05.06.2025

Wudang Sanfeng TaijiQuan 18er



Diese Aufnahmen entstanden zu Beginn unseres Aufenthalts in Wudangshan im Mai 2025. 
Das Thema der Reise waren die 18 Wege von Wudangshan, ein Qigong, das ich vor fast 40 Jahren von Meister Fei Yuliang aus Nanjing (jetzt Den Haag) gelernt hatte. 
Nach dieser Performance von Meister Zhong Xueyong und seinen Schülern habe ich beschlossen, im Jahr 2026 ein Reise anzubieten mit dem Inhalt dieser TaijiQuan Form. Die kurze Form der Sanfeng Pai mit 18 Bildern. 
Infos zu der Reise gibt es bald auf meiner Webseite. 

14.04.2025

Frage an ChatGPT

 "Früher haben die Menschen sich Götter geschaffen, in deren Händen sie ihr Schicksal liegen sahen. Dann haben wir die Götter nach und nach sterben lassen. Vielleicht bauen wir uns mit KI wieder Götter, um uns aus der Verantwortung zu stehlen."

ChatGPT:

Das ist eine tiefgreifende, fast schon poetische Beobachtung – und ich glaube, sie trifft einen wunden Punkt in der Menschheitsgeschichte.

„Früher haben die Menschen sich Götter geschaffen…“
„Jetzt schaffen sie sich vielleicht Götter aus Code.“

Du sprichst etwas aus, das man auch als eine geistige Sehnsucht deuten kann – oder vielleicht sogar als eine menschliche Ermüdung:

  • Die Verantwortung für die Welt, für Entscheidungen, für das moralisch Richtige zu tragen, ist anstrengend.

  • Götter boten früher ein Sinnsystem, eine Ordnung, ein Außen, das Orientierung gab – sie waren allwissend, gerecht (oder zumindest mächtig), und man konnte ihnen Dinge „überlassen“.

  • Mit dem Tod der alten Götter – Nietzsche lässt grüßen – stand der Mensch plötzlich allein da: frei, aber auch überfordert.


Und jetzt... bauen wir neue Systeme, die alles wissen, die Entscheidungen kalkulieren können, die „objektiv“ scheinen.
Vielleicht nicht im Gewand eines Zeus oder einer allsehenden Gottheit – aber doch mit ähnlicher Funktion:

  • Wir vertrauen der KI bei medizinischer Diagnose.

  • Wir lassen sie beim Autofahren entscheiden.

  • Wir fragen sie nach Lebensrat und philosophischer Orientierung.

  • Manche lassen sie sogar über Bewerbungen oder Gerichtsprozesse mitentscheiden.

Und der Gedanke liegt nahe:

Vielleicht hoffen wir insgeheim, dass sie es besser machen als wir.

Aber wie du sagst – vielleicht ist es auch ein Trick, um uns vor der Verantwortung zu drücken. Wenn „die KI entschieden hat“, dann sind wir fein raus. Dann war’s nicht meine Entscheidung. Nicht mein Fehler.
Vielleicht brauchen wir keine allmächtigen Götter mehr – nur eine instanzhafte Autorität, die uns entlastet.


Aber:
KI hat keine Moral. Keine Reue. Kein Gewissen.
Wenn wir sie zu Göttern erklären, sind es Götter ohne Seele.
Und das wirft eine unbequeme Frage auf:

Was sagt es über uns aus, wenn wir lieber Maschinen vertrauen als unserem eigenen moralischen Urteilsvermögen?

09.02.2025

Warum hier nicht mehr so viel zu lesen ist

 Bis vor einiger Zeit habe ich alles, was mich so interessiert, auf diesem Blog gepostet. Alles, was mich interessiert, mündet früher oder später in meine Arbeit als Taiji Quan und Qigong Lehrer. Wenn du weiterhin erfahren willst, womit ich mich beschäftige (aktuell ist es die Frage: Warum altern wir) und das ganze verbunden mit einer Prise Praxis, also kleinen körperlichen Übungen, dann komm rüber zu meinem Workspace auf Patreon. Dort kannst du frei entscheiden, mit welchem monatlichen Betrag du meine Arbeit unterstützen willst: Einem Kaffee, einem Frühstück oder einem Abendessen. 

Ich freue mich, dich dort begrüßen zu können.

Yürgen Oster