19.12.2021

Fanatiker sind's!



Es war verantwortungslos und feige, lange Zeit Hetzer nicht als das zu benennen, was sie sind. Eine Demokratie braucht auch diese Fähigkeit: zu spalten.
VON CAROLIN EMCKE aus der SZ vom 18.12.2021
(Carolin Emcke ist freie Publizistin. Ihre Kolumne erscheint einmal monatlich.)
Vielleicht muss man wieder beginnen, die Worte auf ihre Bedeutung hin zu befragen, weil sie sonst sinnlos werden. Vielleicht muss man die Definitionen wieder schärfen, weil sonst alles stumpf und gleichförmig wird. Vielleicht muss man wieder ausbuchstabieren, was welchen Namen verdient, weil sonst die Unterschiede verloren gehen. Weil sonst alles untergeht in diesem infantilen Meinungsfreiheits-Nihilismus. Vielleicht braucht es ein Wörterbuch der Demokratie, in dem das Vokabular beschrieben wird, das eine demokratische Gemeinschaft braucht, wenn sie demokratisch und gemeinschaftlich bleiben will. Die letzten Jahre waren geprägt von einer absichtsvollen Unschärfe der Sprache, die alle Konturen des Radikalen abgeschliffen und verharmlost hat, als sei irgendwie alles zur Demokratie gehörig, selbst das, was die Demokratie zerstört. Als müsste unbedingt alles irgendwie eingemeindet werden, selbst das, was ganz explizit und unverhohlen die Gemeinschaft ablehnt. Die anbiedernde Geste des Man-muss-die-Ängste-ernst-Nehmens war immer schon eine, die sich nur diejenigen leisten konnten, die den Hass und den Fanatismus der angeblich ängstlichen Bewegungen nicht zu spüren bekamen.
Im Wörterbuch der Aufklärung, der 28-bändigen Enzyklopädie von Denis Diderot, findet sich folgender Eintrag, der immer noch gültig ist: "Fanatismus - das ist ein blinder Eifer, der abergläubischen Anschauungen entspringt und dazu führt, dass man nicht nur ohne Scham und Reue, sondern sogar mit einer Art Freud und Genugtuung lächerliche und grausame Handlungen begeht." Es reiht sich Jahr an Jahr, in dem wechselnde populistische Mobilisierungen absolut schamfrei auftreten und mit Genugtuung ihren lächerlichen und grausamen Furor exhibitionieren. Sie unterfüttern und flankieren ihre Positionen mit kruden Verschwörungsmythen: ganze Geschichten anfangs, später reichen dann bloße Erzählfetzen, einzelne Begriffe und Codes, die den Assoziationsraum aus Irrsinn und Ressentiment aufrufen, ohne noch irgendwelche Gründe oder Motive für den Furor angeben zu müssen. Ressentiment und Wahn verstehen sich gleichsam von selbst. Es reicht dann, "Lügenpresse" zu skandieren oder "Corona-Diktatur", oder wie in Frankreich das notorische "Qui?" (Wer?), das Codewort für jene, die bei der Frage "Wer ist schuld?" immer nur "Juden" als Antwort geben - mehr braucht es nicht als soziales Bindemittel im demokratiefeindlichen, antisemitischen Kontext.
Was als "Freiheit" deklariert wird, ist oft nur hanebüchener Narzissmus
So verantwortungslos wie feige waren die rhetorischen Verrenkungen, die jahrelang in der Öffentlichkeit angestellt wurden, um diese radikalen, fanatischen Ideologien bloß nicht als das zu benennen, was sie sind, eben radikal und fanatisch, sondern um sie unbedingt noch als Teil des demokratischen Spektrums zu definieren. Was wurde da alles weichgespült, um nur bloß keine Abgrenzung formulieren zu müssen. Welche absurden Fehlinformationen wurden da aufgewertet als berechtigte "Skepsis" oder "Bedenken", die es unbedingt abzubilden und zu besprechen gelte, welch hanebüchener Narzissmus wurde da noch als "Freiheit" deklariert, die zu verteidigen sei. Eine gigantische Illusionsmaschine produzierte ständig das Bild einer Gesellschaft, die keine Umgangsformen, keine Regeln, keine Gesetze akzeptieren will.
Es wurde ein entstellendes, verwirrendes Vokabular geschaffen, das Kritik an den populistischen Mobilisierungen eilig als "Ausgrenzung" brandmarkte. Da wurde jede noch so systemfeindliche Position als "sorgenvoll" pädagogisiert, jede noch so abgesicherte Anhängerschaft als ökonomisch hilflos oder politisch vernachlässigt dargestellt, um nur ja nicht differenzieren und benennen zu müssen, wer da mit welchen Phantasien gegen "den Staat", gegen "die Medien", gegen "Genderwahn", gegen den "Bevölkerungsaustausch", gegen "die Verordnungs-Diktatur" protestiert. Jetzt wird staunend eine Radikalisierung beklagt, die man sich nicht erklären kann, weil das Radikale der Wissenschaftsfeindlichkeit, der Verachtung der öffentlich-rechtlichen Medien und der Distanz zum Rechtsstaat, die die verschiedenen Bewegungen immer schon ausgezeichnet hat, jahrelang mühevoll verniedlicht wurde.
Was eine demokratische Gesellschaft braucht, um zu bestehen
Mit der Furcht vor der "Spaltung" wurden eben jene Gruppierungen legitimiert, die tatsächlich nichts anderes wollen als eine Spaltung der demokratischen Gesellschaft. In einem politischen Diskurs, der jahrzehntelang die kulturelle und religiöse Pluralität der hiesigen Einwanderungsgesellschaft nicht anerkennen konnte, soll nun auf einmal Vielfalt der Meinungen über alles gestellt werden - selbst wenn es sich gar nicht um begründete Einsprüche oder Überzeugungen handelt, sondern um falsche Tatsachenbehauptungen oder antisemitische und rassistische Hetze. Man könnte lachen, wenn es nicht so bitter wäre.
Eine demokratische Gesellschaft kann nicht bestehen, wenn sie sich in der öffentlichen Auseinandersetzung der Instrumente beraubt, begriffliche und politische Grenzen zu ziehen. Dazu gehört es, jene Verschiedenheiten anzuerkennen, die die plurale, offene Demokratie stärken, weil sie zwar unterschiedliche kulturelle oder religiöse Herkünfte und Praktiken leben, aber sich alle auf den Rechtsstaat verlassen. Aber dazu gehört eben auch, jene Verschiedenheiten zu erkennen, die die plurale, offene Demokratie ablehnen, weil sie in einer Parallelwelt aus Aberglauben und Ressentiment leben. Eine demokratische Gesellschaft braucht die Fähigkeit zu spalten - sie muss unverhandelbare Grenzen markieren können, sie muss rationale Standards aus Gründen und Argumenten verlangen können. Sonst lässt sie diejenigen allein, die an sie glauben und die ihren Schutz brauchen.“

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