Ein bizarrer Zug, der sich als Demonstration begreift und als „Hygiene-Spaziergang“ bezeichnet: Es geht gegen die Maßnahmen der Regierung im Kampf gegen Covid-19, es geht um Meinungsfreiheit, das Versammlungsrecht, aber auch um Impfpflicht, Mietwucher, Atommüll-Transporte und um die Solidarität mit Geflüchteten. Es geht um unterirdische Lager, in denen entführten Kindern das Serum Adrenochrom abgezapft werde, es geht um die Rechtschreibreform und um ein bedingungsloses Grundeinkommen. Es ist eher ein Karneval der Ideologien als eine Demonstration.
In Michael Endes Roman „Die Unendliche Geschichte“ stößt der Held Bastian Balthasar Bux im Reich Phantásien auf das heimatlose Volk der Schlamuffen. Die Schlamuffen sind bunte Wesen, die immer Spaß wollen, „in allerhand karierten, gestreiften, geringelten oder gepunkteten Plunder gekleidet, doch schien jedes Kleidungsstück entweder zu eng oder zu weit, zu groß oder zu klein und sozusagen auf gut Glück zusammengenäht.“ Keine Schlamuffe gleicht einer anderen, manche haben bunte Haare, manche haben Glatzen. Die Schlamuffen reden viel und bringen gedanklich alles durcheinander: „Habt Ihr das gehört? Habt Ihr das begriffen? Er ist unser Tolwäter! Er heißt Nastiban Baltebux! Nein, er heißt Buxian Wähltoter! Quatsch, er heißt Saratät Buxiwohl! Nein, Baldrian Hix! Schlux! Babeltran Totwähler! Nix! Flax! Trix!“ Vor allem aber glauben die Schlamuffen, dass sie alles dürfen und niemand ihnen etwas verbieten darf.
Aber nicht nur in der Literatur, auch in der Geschichte gab es immer wieder von der Logik Herausgeforderte und Verwirrte, die sich für Erleuchtete hielten – und sich mangels gesellschaftlicher Anerkennung zu Zügen und Prozessionen zusammenfanden, um in der Gemeinschaft anderer Verwirrter ihren disparaten Thesen Gewicht zu verleihen.
Als Papst Urban II. 1095 für den August 1096 zum Ersten Kreuzzug aufrief und allen Teilnehmern Straffreiheit und den Einzug ins Paradies zusicherte, konnte er nicht damit rechnen, dass bereits im April 1096 allerlei Gesindel nach Jerusalem aufbrach. Eine Armee aus bis zu 40.000 Kleinbauern, Frauen und Kindern, denen geweissagt worden war, das Ende der Welt stehe unmittelbar bevor. Dieser so genannte „Volkskreuzzug“ war allerdings weniger religiös motiviert, sondern eher eine willkommene Fluchtmöglichkeit für Gauner, Kriminelle und Halunken. Wie heute – wer teilnahm, war quasi nicht der Gesetzbarkeit unterworfen, im Sinne des Wortes immun und fühlte sich dadurch unantastbar. Das führte nicht nur zu schrecklichen Pogromen an der jüdischen Bevölkerung in Mainz, Worms und Speyer, sondern auch zu allerlei wirren Selbstermächtigungen: Phantasten, die den Heiligen Schweif eines Esels verehrten oder einer von Gott erleuchteten Gans folgten.
Etwa 300 Jahre später, in der Zeit der großen Pest-Pandemie zwischen 1346 und 1353, der etwa ein Drittel der damaligen Weltbevölkerung zum Opfer fiel, war social distancing der Aufschlag für eine merkwürdige Gegenbewegung: Zunächst „mied ein Bürger den anderen, dass fast kein Nachbar für den anderen sorgte und sich selbst Verwandte gar nicht oder nur selten und dann nur von weitem sahen“, wie Giovanni Boccaccio in seinem „Decamerone“ schrieb.
Dann jedoch entstanden religiöse Bewegungen, die bestehende Autoritäten in frage stellten, denn auch die standen der Pandemie letztlich hilflos gegenüber. In unmittelbarer Erwartung des Weltuntergangs zogen Flagellanten in Geisterzügen durch die Gegend, die die kirchliche Macht für obsolet erklärten.
Durch die Selbstgeißelung bliebe der Einzug ins Paradies nach dem Weltuntergang den Flagellanten vorbehalten, so deren Überzeugung. Der florentinische Geschichtsschreiber Matteo Villani berichtet angesichts der Pest von anderen Formen des Protests gegen die öffentlichen Verhaltensregeln:
„Die Menschen […] trieben es zügelloser und erbärmlicher als jemals zuvor. Sie ergaben sich dem Müßiggang, und ihre Zerrüttung führte sie in die Sünde der Völlerei, in Gelage, in Wirtshäuser, zu köstlichen Speisen und zum Glücksspiel. Bedenkenlos warfen sie sich der Lust in die Arme.“
Auch im Zuge der Schwarzen Pest kam es dann durch den Verlust weltlicher und kirchlicher Autorität zu Pogromen an der jüdischen Bevölkerung als vermeintlich Schuldige an der Katastrophe.
Nein, Geschichte wiederholt sich nicht, auch wenn die großen schwedischen Geschichtstheoretiker von ABBA in ihrem Opus Magnum „Waterloo“ anderes behaupten („the history book on the shelf is always repeating itself“). Aber sie zeigt, dass in Zeiten großer Krisen immer auch verzweifelte und verwirrte Apokalyptiker an die Oberfläche gespült werden. Sie marschieren dann zwar gemeinsam, aber jeder kämpft für sein eigenes, einsames Ziel. Das macht auch die so genannten Hygiene-Spaziergänge nicht zu einer Demonstration, sondern zu einem Schlamuffen-Marsch mit Grundgesetz.
Man kann die Maßnahmen der Regierungen kritisieren, man muss nicht jede Entscheidung der Behörden gutheißen – aber es ist sicher keine gute Idee, sich einzureihen in die karnevalistische Prozessions-Farce der Imbezilen.
Quelle: https://errorcompany.org/2020/05/19/der-reiter-und-das-himmliche-kind/?fbclid=IwAR1bjLXV1W0Z9VJx4TdCTbpsGMU6jqbjEjy3ng7Cp5CjczWGQSFxfvADffA
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