03.09.2019

ARTEN Sterben

Das erste große Sterben

Zu dem frühesten der fünf großen Massenaussterben kam es vor 444 Millionen Jahren am Ende des Ordoviziums. Dieses nach den Ordovices, einem von den Römern vernichteten Keltenstamm in Wales, benannte Erdzeitalter folgte auf das Kambrium. An dessen Beginn hatten sich in der „kambrischen Explosion“ (17 November) sehr rasch fast alle wichtigen Tierstämme entwickelt: Schwämme, Stachelhäuter, Gliederfüßler, Nessel-, Weich- und Wirbeltiere.

Im Ordovizium entfalteten sie dann ein immer größeres Formenspektrum, wenn auch noch fast ausschließlich im Meer. Mit dem Kopffüßler Cameroceras und seinem mindestens sechs Meter langen Kegelgehäuse gab es bereits einen Räuber an der Spitze der Nahrungskette. Ansonsten beherrschten die käferförmigen Trilobiten das Bild, und mit den Moostierchen (Bryozoen) trat der letzte noch fehlende bedeutende Tierstamm auf, der im Kambrium noch nicht vorhanden war.

Typisch für das Ordovizium waren indes die merkwürdigen Graptolithen, winzige, weitläufig mit den Wirbeltieren verwandte Wesen, die als Kolonien in filigranen, meist am Meeresboden verankerten Röhrenkonstruktionen wohnten.

Keine dieser und anderer damals dominanter Gruppen starb bei der Katastrophe am Ende des Ordoviziums völlig aus. Doch viele erlitten so heftige Verluste, dass sie sich nie wieder davon erholten. Die Zahl der Trilobitenfamilien etwa wurde mehr als halbiert, und die zuvor global vertretenen Grapto-lithen kamen danach nur noch in den damaligen Tropen vor. Das deutet bereits an, was damals passiert ist: Im späten Ordovizium wurde es – zum ersten Mal seit dem Erscheinen der Tiere – richtig kalt.

Das allein wäre vielleicht nicht so schlimm gewesen. Doch erstens war es zuvor brütend warm gewesen – die Kohlendioxid – Konzentrationen waren zehnmal höher als heute – und zweitens schob sich damals gerade ein Superkontinent, bestehend aus dem, was später Südamerika, Afrika, Indien, Australien und die Antarktis werden sollte, über den Südpol. Die Landmasse bot enormen Gletschern Platz, und das darin gebundene Wasser fehlte nun dem Ozean. Die Meeresspiegel sanken rasch um 70 bis 100 Meter und legten viele der vor marinem Leben wimmelnden ordovizischen Schelfmeere trocken. Und kaum hatte sich die Biosphäre mit den neuen Verhältnissen arrangiert, wurde es eine Millionen Jahre später plötzlich wieder warm. Das gab vielen 

Der Tod der Panzerfische

Auf das Ordivizium folgte das Silur. Da zeigten sich die ersten, noch kieferlosen Fische und es wagten sich bereits einige Tiere längere Zeit ans Land. Darunter waren wahrscheinlich Seeskorpione, eine Gruppe, die im nun folgenden Zeitalter des Devon die mit mehr als zwei Metern Länge größten jemals lebenden Gliederfüßler hervorbrachte. Auch war das Silur die Zeit, in der die Kontinente langsam zu ergrünen begannen. An Land erschienen die ersten, noch primitiven Gefäßpflanzen.

Der Übergang vom Silur zum Devon vor 419 Millionen Jahren erfolgte biosphärisch unspektakulär. Tatsächlich machte die Abgrenzung der beiden Erdzeitalter nicht wenig Probleme und wurde erst 1972 auf einem Geologen-Kongress in Montreal definiert. Im Devon setzten sich die beiden zukunftweisenden Trends des Silur fort: die Ausbreitung des Lebens an Land und der Siegeszug der Fische. An Land machten sich bald Pflanzen breit, die Wurzeln schlugen und die Höhe heutiger Bäume erreichen konnten. Ihre Photosynthese senkte allmählich die Kohlendioxid-Werte in der Atmosphäre, trotzdem blieb es leidlich warm, am Südpol gab es höchstens ein bisschen Eis, und so standen die Kontinentalsockel unter Wasser und boten reichlich sonnendurchfluteten marinen Lebensraum. Gewaltige Korallenriffe entstanden, zwischen denen es sich unter anderem die urtümlichen Panzerfische gutgehen ließen mit dem über sechs Meter langen Dunkleosteus (im Bild sein Schädelfossil) als Apex-Predator.

Warum diese Welt dann zwischen 372 und 359 Millionen Jahren vor heute unterging, ist weit weniger gut verstanden als im Fall des ersten großen Massenaussterbens am Ende des Ordoviziums. Es ist nicht einmal klar, ob und wie die beiden Minima in der Sepkoski-Kurve zusammenhängen, das sogenannte „Kellwasser-Ereignis“ und der Schnitt ganz am Ende des Devons, der nicht nur Dunkleosteus hinwegraffte, sondern unter anderem auch die letzten Graptolithen. Wahrscheinlich kamen einfach mehrere Faktoren zusammen: eine Sauerstoffarmut in den Ozeanen bei gleichwohl steigenden Meerespiegeln, gefolgt von einer globalen Abkühlung. Die Beteiligung von Vulkanen ist möglich, die eines Asteroideneinschlages pure Spekulation.

Wie auch immer, als das auf das Devon folgende Karbon begann, waren 80 bis 90 Prozent aller Meerestierarten verschwunden. An den neuen Landpflanzen jedoch war das Desaster weitgehend spurlos vorbeigegangen.

Trilobitendämmerung

Das dritte große Massenaussterben ereignete sich vor 252 Millionen Jahren, und es trennt nicht nur die Zeitalter Perm und Trias, sondern auch Erdaltertum und Erdmittelalter – so deutlich unterscheiden sich die Fossilien beiderseits dieser Grenze. Tatsächlich muss sich die Erde damals so drastisch geändert haben wie seit Hunderten von Millionen Jahren nicht mehr. Blickt man zurück in die Erdgeschichte, war erst die Marinoische Eiszeit schlimmer gewesen, bei der vor 650 Millionen Jahren der gesamte Planet bis in die Tropen unter einem Eispanzer verschwand.

Aber da gab es noch keine höheren Lebensformen. Nun jedoch war es eine Hekatombe. Über 90 Prozent aller spätpermischen Arten, die Fossilien hinterlassen, wurden ausgelöscht. Zu den Opfern gehörten unter anderem die riesigen Seeskorpione und die letzten Trilobiten. Mit einer einzigen verbliebenen Familie waren die Trilobiten im späten Perm freilich nur noch ein Schatten ihrer früheren Größe gewesen. Aber diesmal traf es nicht nur die Meere, auch 77 Prozent aller Landtierarten verschwanden, sogar Insekten. Verschont blieben dagegen wieder die Landpflanzen.

Die Suche nach den Ursachen für den biosphärischen Super-GAU wird dadurch erschwert, dass die Meerespiegel über die Perm-Trias-Grenze hinweg sehr niedrig lagen, wodurch sedimentäre Zeugnisse des Geschehens auf Kontinenten und Festlandsockeln an den meisten Stellen baldiger Erosion anheimfielen. Sicher ist man sich immerhin, dass diesmal weder eine Meeresspiegeländerung noch eine Abkühlung schuld war, wahrscheinlich aber eine Erwärmung, die sich damals besonders schlimm auswirkte. Denn die Erdteile bildeten im Perm eine zusammenhängende Landmasse, so dass riesige Flächen von kontinentalem Klima bestimmt waren. Zudem scheint sich das große Artensterben über mindestens 200.000 Jahre hingezogen zu haben. Die meisten Experten sehen daher den auslösenden Faktor in einer Vulkantätigkeit, die just um diese Zeit halb Sibirien mit Lava flutete, obendrein große Kohle- oder Erdölvorkommen in Brand gesteckt und dabei ungeheure Mengen an Treibhausgasen freigesetzt haben musste.

Wo sind die Conodonten hin?

In der mittleren Trias hatte sich die Biosphäre von den schlimmsten Folgen der permo-triassischen Katastrophe einigermaßen erholt. Sogar die Riffe kehrten zurück, die seit dem Ende des Devons weitgehend gefehlt hatten. Nur waren es nun nicht mehr die altertümlichen Böden- und Runzelkorallen, die am Ende des Perms komplett ausstarben, sondern moderne Steinkorallen. Zwischen ihnen gediehen Ammoniten, Knochenfische und Haie – Panzerfische gab es seit dem Devon nicht mehr. Die marinen Spitzenräuber waren nun die Fischsaurier. Sie waren Nachfahren vierbeiniger Wesen, die ins Meer zurückgekehrt waren, rund 150 Millionen Jahre nach dem ersten Landgang der Wirbeltiere. An Land gab es in der späten Trias bereits Dinosaurier, freilich noch nicht die kultigen Monster der Jura- und Kreidezeit, sowie die ersten Säugetiere.

Dann schlug vor 201 Millionen Jahren das vierte große Massensterben zu. Die Verluste reichen mit über 75 Prozent aller Arten an die des devonischen Massensterbens heran und wie bei diesem traf es in puncto Biomassenverlust die Riffe besonders hart. Mehr als 95 Prozent starben ab.

Die prominentesten Opfer des triassischen Faunenschnitts indes sind der breiteren Öffentlichkeit eher wenig bekannt, den Paläontologen dagegen umso mehr, denn für sie sind die sogenannten Conodonten („Kegelzähne“) die wichtigsten Leitfossilien des Erdaltertums. Mehr als ein Jahrhundert lang wusste freilich niemand, von welcher Sorte Tier diese kleinen Gebissteile stammen. Erst 1982 fanden sich in einem Gesteinsbrocken aus Schottland versteinerte Weichteile eines aalförmigen Geschöpfs, das mit solchen Zähnen ausgestattet war.

Was die Ursache für das endgültige Ende der Conodonten angeht, so weist auch hier alles auf massiven Vulkanismus in einer durch niedrige Meeresspiegel sowieso schon gestressten Biosphäre hin. Die zugehörigen Flutbasalte finden sich sowohl an der Ostküste Nordamerikas als auch in Nordeuropa und Westafrika, was nahelegt, dass es die beginnende Öffnung des Atlantiks war, die den vierten großen Faunenschnitt auslöste.

Der Weg der Dinosaurier

Ist von Massenaussterben die Rede, denken viele gleich an das Ereignis, mit dem vor 66 Millionen Jahren die Kreidezeit zu Ende ging. Und das nicht etwa weil dies das jüngste, am besten erforschbare der „großen Fünf“ ist. Auch der ikonische Status einiger seiner Opfer ist nicht mehr der alleinige Grund für das besondere Interesse an dem bislang letzten großen Artensterben. Es ist vielmehr seine mutmaßliche Hauptursache: ein zehn bis fünfzehn Kilometer großer Asteroid, der just an der Grenze von Kreide und Paläogen (oder Tertiär, wie es früher hieß) in die Halbinsel Yukatan einschlug.

Danach waren nicht nur Triceratops horridus (im Bild) oder Quetzalcoatlus northropi Geschichte, sondern eine ganze ökologische Welt. Viele ihrer Bewohner, die Ichthyosaurier und die Ammoniten etwa, waren Überlebende aus dem Trias gewesen, die im Jura erneut auf Erfolgskurs gingen. Andere waren neu und von zuweilen zukunftweisender Bedeutung, etwa die Blütenpflanzen. Und manche sahen kaum weniger bizarr aus als die Dinosaurier. Zum Beispiel die Rudisten, klobige Muscheln, die gewaltige Riffe aufbauten. Dennoch war diese Welt der, die ihr folgte, weniger fremd, als man es sich oft vorstellt. Das fünfte Massensterben ist nach der absoluten Zahl untergegangener Arten zwar mit den vorangegangenen vergleichbar, prozentual gesehen aber das schwächste der „großen Fünf“. Der Artenverlust, den der Asteroid zu verantworten hat, könnte nur 57 Prozent betragen haben.

Aber ist der Asteroid überhaupt schuld? Viele Fachleute würden heute sagen: Ja schon, aber nicht allein. Denn auch am Ende der Kreidezeit gab es einen Rückzug der Meere sowie eine Episode ausgedehnter Flutbasalt-Eruptionen, diesmal in Indien. Andererseits war jener Einschlag in Yukatan wahrscheinlich der schwerste Treffer, den unser Planet in den vergangenen 600 Millionen Jahren einstecken musste. Da stimmt es dann auch irgendwie tröstlich, dass sich die Folgen trotz zusätzlicher Faktoren wie Meeresspiegelstress und indischer Vulkane in Grenzen hielten. Schließlich sind nicht einmal die Dinosaurier wirklich ausgestorben. Die Vögel stammen direkt von ihnen ab.

Der sechste Hammerschlag

Am Ende ging es dann doch immer wieder bergauf. Nach jedem der fünf Desaster der vergangenen 541 Millionen Jahre hat sich die globale Diversität des Lebens auf der Erde nicht nur wieder erholt, sondern sich oft zu neuen Höhen aufgeschwungen – der langfristige Aufwärtstrend in obiger Kurve ist nicht allein mit der umfassenderen Überlieferung jüngerer Gesteine und damit der darin enthaltenen Fossilien zu erklären. Das gilt insbesondere für die drei größten Faunenschnitte – die am Ende des Ordoviziums, des Perms und der Kreidezeit. Nur die waren übrigens echte Massenaussterben in dem Sinne, dass die Raten, mit denen Organismenarten verschwanden, die der Entstehung neuer Arten übertrafen. Die Ereignisse in Devon und Trias waren dagegen eher Massenverarmungen, da der Artenrückgang hier weniger auf faktisches Aussterben als auf eine Verhinderung der Entstehung neuer Arten zurückzuführen ist.

Sehr oft aber gaben die großen und kleineren Aussterbeereignisse dem Leben eine neue Richtung. Der Aufstieg der Säugetiere nach dem Untergang der Dinosaurier ist das bekannteste Beispiel. Das folgenreichste war indes die wohl umfassendste Vernichtung von Biodiversität, die je den Planeten heimgesucht hat: Vor mehr als zwei Milliarden Jahren begannen Cyanobakterien Sonnenlicht zu nutzen und dabei Sauerstoff freizusetzen, den es bis dahin in der Atmosphäre nicht gab. Ohne dieses Abgas wäre das Leben später sehr wahrscheinlich nie über das Stadium von Schleim hinausgekommen. Doch zuvor hat es ganze Weltmeere voller anaerober Bakterien abgetötet.

Unschön auch, was der Ediacara-Fauna wiederfuhr. Diese rätselhaften Wesen waren die ersten Organismen, die man mit bloßem Auge als solche hätte erkennen können. Sie lebten vor etwa 610 bis 542 Millionen Jahren, kurz vor dem Anbruch des Kambriums, auf und von Bakterienmatten am Grund sonnendurchfluteter flacher Meere. Damit war Schluss, als sich Tiere entwickelten, die andere Tiere fraßen, was die einen zur Ausbildung harter Panzer trieb, die anderen dazu brachte, sich in den Meeresboden zu flüchten und damit den Garten von Ediacara umzupflügen. Das evolutionäre Wettrüsten zerstörte das Bakterienmattenparadies, aber damit begann erst die ganze Vielfalt der Tier- und später auch der Pflanzenwelt.

Während die Cyanobakterien das urzeitliche Desaster überlebten, das sie auslösten, mussten die frühen Sandwürmer und gepanzerten Meerestiere immer effizienteren Buddlern und besser gerüsteten Räubern Platz machen. Und auch die Tierart, die sich heute anschickt, die Biosphäre umzukrempeln, sollte mittelfristig nicht damit rechnen, es dadurch besser zu haben. Tatsächlich hat der Mensch mit seine Aktivitäten nolens volens ein neues erdgeschichtliches Zeitalter eingeläutet. Das „Anthropozän“ begann entweder 1610 oder 1945 oder 1964 – darüber diskutieren die Geowissenschaftler noch – und die Indizien für seine langfristige geologische Sichtbarkeit sind übermächtig: Für 38 Prozent der Nettopflanzenproduktion der Biosphäre ist heute die menschliche Nutzung verantwortlich. Das Kohlendioxid aus der Verbrennung von Gas, Öl und Kohle hat den Säuregrad des Meerwassers auf Werte gebracht, wie es sie zuletzt im Erdaltertum gab. Und die Erfindung des Kunstdüngers verändert die globalen Stickstoffkreisläufe so stark wie seit 2,5 Milliarden Jahren nicht mehr. Schließlich vergeht kein Tag ohne Berichte über Tier- und Pflanzenarten, die durch Überfischung, Umweltverschmutzung und Habitatzerstörungen ausgerottet wurden oder kurz davor stehen.

Das hat zu der Vermutung geführt, der Mensch sei drauf und dran, ein sechstes großes Massenaussterben auszulösen. Doch wie der britische Paläontologe Norman McLeod in seinem Buch „Arten sterben“ darlegt, sind manche Zahlen, die zu dieser Frage im Umlauf sind, schlicht aus der Luft gegriffen. Darunter die, welche der frühere amerikanische Vizepräsident Al Gore verbreitete, als er schrieb, pro Jahr würden 40.000 Tierarten aussterben. Oft hat McLeod auch gelesen, in den nächsten hundert Jahren würden 50 Prozent aller vor Anbruch des Industriezeitalters exisierenden Tierarten aussterben. Selbst wenn das stimmen würde, wäre das noch kein sechstes großes Massenaussterben. Bei den fünf vorangegangenen mussten stets höhere Anteile der Tier- und Pflanzenspezies dran glauben.

Im Zuge des „Hintergrundaussterbens“ im langfristigen erdgeschichtlichen Mittel und außerhalb der „großen Fünf“ müsste laut McLeod pro Jahr etwa eine Tierart aussterben, die das Potential hat, fossile Spuren zu hinterlassen. Seit der Zeit um 1600, als man Aussterbefälle zu dokumentieren begann, müssten demnach etwa 400 Arten natürlicherweise verschwunden sein. Tatsächlich berichtet wird aber von etwa tausend in diesem Zeitraum ausgestorbenen Arten, was die wirkliche Zahl aber mit Sicherheit unterschätzt, dürften sich doch viele Spezies gänzlich unbemerkt vom Menschen aus der Naturgeschichte verabschiedet haben. Das Artensterben ist also gegenüber dem erdgeschichtlichen Hintergrund ganz offensichtlich erhöht – aber um wie viel?

In der Literatur zum Thema Anthropozän ist öfter von einer hundert- bis tausendfachen Erhöhung der Aussterberate die Rede, doch McLeod und andere Experten halten es für grundsätzlich problematisch, Zahlen heutiger Aussterbefälle hochzurechnen und mit paläontologischen Daten zu vergleichen. Denn die modernen Verluste sind zumeist auf der Ebene lokal auftretender Arten dokumentiert, während fossil erschlossene Aussterbeereignisse höhere taxonomische Gruppen – Gattungen, Familien, Ordnungen – erfassen, aus denen der Verlust auf Artebene dann erst abgeschätzt wird. Hinzu kommt, dass die bis dato vom Menschen angerichteten Naturzerstörungen von anderer Art sind als etwa das Trockenfallen ganzer Schelfmeere durch eine Absenkung des Meeresspiegels. Zwar zeichnen sich inzwischen auch großräumige Umwälzungen ab, etwa am Great Barrier Reef vor Australien, und auch die Ozeanversauerung infolge der steigenden CO2-Pegel könnte in Zukunft höhere taxonomische Ebenen verwüsten. Doch quantitativ wird man den Schaden möglicherweise erst abschätzen können, wenn er eingetreten ist.

Andererseits stellte eine Forschergruppe von der University of California in Berkeley 2011 im Magazin Nature Betrachtungen über den Anteil von Arten verschiedener Organismengruppen auf den Gefährdungslisten der International Union for Conservation of Nature an. Dabei kamen sie zu dem Schluss, es gäbe „klare Hinweise, dass ein Verlust aller heute als ‚vom Aussterben bedroht‘ (,critically endangered‘) eingestuften Arten die Welt in den Zustand eines Massensterbens befördern würde, wie es ihn in den vergangenen 540 Millionen Jahren erst fünf Mal gegeben hat“.

Andere Forscher begegnen solchen Aussagen mit Skepsis. „Ein Problem dieser Art von Abschätzungen ist, dass wir dazu viel zu wenig über die globale Diversität vieler Gruppen wissen“, sagt etwa Phoebe Cohen vom Williams College in Massachusetts, die das Artensterben am Ende des Devon erforscht. „Die einzige Gruppe, die wir hier ausreichend verstehen, sind die Säugetiere und vielleicht noch die Vögel.“ Schon über die Biodiversität der Muscheln wisse man einfach zu wenig. „Keine Zweifel, die Aussterberaten sind erhöht“, sagt Cohen. „Aber ob wir wirklich einem sechsten Massensterben entgegengehen, weiß ich nicht, und ich glaube, niemand wird sich da sicher sein können, für Hunderte wenn nicht Tausende von Jahren.“

So oder so wird der Mensch die Biosphäre nicht ein für alle Mal ruinieren. Das hat noch nicht einmal das große permo-triassische Ereignis geschafft. Aber er dürfte sie in geologisch kurzer Zeit stark verändern. Insofern Homo sapiens in den Eiszeiten mit ihren stetig wechselnden klimatischen Bedingungen groß geworden ist, dürfte er als biologische Art den kommenden Wandel sicher überleben. Seine Zivilisation aber, mit ihren Annehmlichkeiten und geistigen Höhenflügen, ist historisch das Produkt einzigartig stabiler Umweltbedingungen während der vergangenen 10.000 Jahre. Damit könnte es dann vorbei sein.


Literatur: Norman MacLeod, „Arten sterben. Wendepunkte der Evolution“. Theiss Verlag, Stuttgart 2016.

Quelle: F.A.Z.   Veröffentlicht: 22.09.2016 13:37 Uhr

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