08.10.2017

Warum ich nicht mehr in Eile bin

Bei meinen Übungen, dem Seidenfaden Qigong zum Beispiel oder auch schon bei einfachen Dehnübungen, zähle ich. Früher habe ich auch beim Zhan Zhuang gezählt, meine Atemzüge. Inzwischen nehme ich den Timer meines Smartphones. Aber dennoch, ich zähle oft.

Vor allem wenn die Bewegungen recht langsam, bedächtig ausgeführt werden, rennt der Geist spätestens ab vier oder fünf voraus. Er ist dann im Hintergrund des aktiven Zählens schon bei acht oder neun bevor ich von vier nach fünf gezählt habe. Der Geist ist schnell. Ihm scheint die Realität zu langsam zu sein. Es gibt aus allen Kulturen kleine Geschichten, wo zum Beispiel die Grete zum Markt geht, mit einem Korb Eiern auf dem Kopf. Und sie denkt sich dabei, dass sie vom Erlös ein Huhn kaufen könnte, dann gebe es mehr Eier, später noch einen Hahn, dann hätte sie bald eine kleine Hühnerfarm, verdiene genug Geld und könne sich den schönsten Burschen aussuchen. Vor Freude hüpft sie hoch und der Korb fällt zu Boden. Selbst ohne den negativen Ausgang der Geschichte sehen wir, wie schnell der Geist ein Universum erschaffen kann.

Alle Ereignisse brauchen ihre Zeit und sie haben ihre Zeit. Im Taiji Quan lernen wir, die Bewegung entstehen zu lassen, ihr nicht im Weg zu sein und sie auch nicht durch eigenes Handeln überflüssig zu machen. Denn alles was wir tun, kann nicht von alleine passieren. Es braucht vielleicht ein wenig länger, aber es ist dann mühelos. Es nimmt seinen Weg, wie Wasser bergab fließt. Von selbst, natürlich, ohne Absicht, ohne Ziel, einfach seiner Natur folgend.

Ich habe davon gelernt, lebe ruhig, warte ab, eile nicht. Alles erscheint von selbst, vergeht von selbst, wie soll ich die Welt in die Hand nehmen und ihre Entwicklung beschleunigen können. Warum soll ich hetzen, wenn ich doch nicht früher ankommen kann, weil es kein Ankommen gibt.


Es ist noch nicht lange her, da habe ich geglaubt, mich im Vermitteln der Künste nun beeilen zu müssen. Ich werde nicht jünger und die mir zur Verfügung stehende Zeit wird weniger. Aber die Leute können nicht schneller lernen. Alles braucht seine Zeit und alles hat seine Zeit. In Eile bin ich innerlich stets der Gegenwart voraus, bin nicht hier, bin nicht jetzt. Es ist nur der Geist, der unruhige, der voraus eilt. Ich bin hier, glaube aber dem Geist. Es gibt einen schönen alten Text, das Xin Xin Ming, die Schrift vom Vertrauen in den Geist. Gilt als der erste Text im Zen. Es meint aber nicht den unruhigen Geist, den hin und her springenden, den zweifelnden, abwägenden, leugnenden Geist, sondern den tieferen, himmlischen, wissenden Geist, der dem kindischen zu Grunde liegt. Durch die Bindung an die Substanz jedoch verliert er die Orientierung. Zurückkehren zum Ursprung, zum eigentlichen Wesen schenkt Vertrauen. Was soll man fürchten, was verlangen?

Stell dir die beiden als Menschen vor. Der eine rennt geschäftig hin und her, voller Ideen, die er gleich wieder verwirft, durch neue ersetzt, aufbaut und einreisst, zögert, zweifelt, auf alles eine Antwort hat, die er gleich auch widerlegen kann.
Der andere sitzt derweil an seinem Platz, genießt den Augenblick, atmet ruhig und gleichmäßig, stellt keine Fragen und braucht keine Antworten. Er ist genügsam und einfach, braucht nichts und hat alles.

Wen würdest du um Rat fragen?

Statt also weiter dem Affen Zucker zu geben, sollten wir mit dem Weisen Tee trinken - und abwarten. Je ruhiger und langsamer ich werde, desto mehr Zeit habe ich. So wie ich meine materiellen Güter, die Erscheinungen, reduziert habe, so reduziere ich nun meine Aktivitäten, die Ereignisse. Dabei geschieht so viel, dass ich kaum noch mitkomme. Aber ich bin nicht mehr in Eile.

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