28.05.2016

Eine Schale Tee

 


Eine Schale Tee

Kölnig Wen aus Zhou hatte einen besonderen Tee bekommen. Nicht viel, gerade genug für eine kleine Kanne. Damit wollte er den Weisen Li beeindrucken. Also ließ er nach ihm schicken und Wasser aufsetzen. 
Als der Weise Li in den Palast kam, war der Tee gerade gewaschen und fertig für den ersten Aufguss.
Li setze sich in gebührendem Abstand zum König, dieser aber bat ihn, näher zu rücken, sollte es doch eine vertrauliche Begegnung sein. Als der Tee in die Schalen gegossen war, sagte Li:"Wir wollen dem Himmel und der Erde danken, dass sie sich vermischt haben und uns ein Leben schenkten, in dem es uns vergönnt ist, diesen Tee zu genießen." 
"Danken wir Himmel und Erde", sagte der König und wollte nach der Schale greifen. Aber Li hob leicht die Hand um anzuzeigen, dass er noch nicht fertig sei. "Auch unseren Eltern wollen wir danken und unseren Ahnen, denn sie waren doch unmittelbar beteiligt an unserer Menschwerdung."
"Ja, danken wir Vater und Mutter und deren Vorfahren." Doch bevor König Wen auch nur die leiseste Geste gemacht hatte, redete der Weise Li weiter:"Wir sollten nicht jene Menschen vergessen, die den Tee gepflanzt, gepflegt und gepflückt haben, sowie die, die ihn uns hergebracht haben."
"Nun, so sei auch derer gedacht und damit hätten wir wohl alle", wurde der König ungeduldig.
"Wenn wir es genau nehmen", antwortete Li,"dann sollten wir zumindest noch der jungen Frau danken, die den Tee für uns zubereitet hat. Aber besser wäre es, auch jene mit in unseren Dank einzubeziehen, die das Feuerholz gebracht haben und das Wasser vom Brunnen. Obwohl sie vom niederen Volke sind, so säßen wir ohne sie mit den trockenen Blättern hier. Beinahe hätte ich auch alle vergessen, die auf Euren klugen Plan hin die Straßen ausgebaut haben, auf denen der Tee zu uns gebracht wurde. Was wären alle diese Menschen, ohne ihre Nachbarn, Freunde und Verwandte, ohne die Händler von Stoffen, aus denen ihre Kleidung geschnitten wurde, ohne die Bauern, die für Nahrung sorgten, ohne die Ärzte, welche sie bei Gesundheit hielten.
Ehrenwerter König, wenn ich es recht bedenke, dann wird letzten Endes jeder Mensch unter dem Himmel daran beteiligt sein, dass wir jetzt diesen Tee trinken können. Der wird über meine Gedanken kalt geworden sein und ich bitte um Nachsicht. Doch mit der gewonnenen Erkenntnis sollte er uns auch so schmecken, wie er inzwischen geworden ist."
Lächelnd griffen beide nach ihren Schalen und in der Tat, kühl mundete ihnen das Getränk besser, als sie es je erwartet hätten. 


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