hatte ich dir ja schon gesagt, Frau O., dass ich daran eigentlich nicht interessiert war. Ich wollte eigentlich Zen. Strenge, Kloster.
Man kann sagen, Taijiquan hat diverse Aspekte, die für unterschiedliche Bedürfnisse interessant sein können. Da wäre zum ersten die Sache mit der Gesundheit. Damit lehnen sie sich in China weit aus dem Fenster und im Westen hat man das gerne übernommen. Ich mach mitunter darauf aufmerksam, dass Gartenarbeit oder Singen im Chor auch gut für die Gesundheit ist, aber die Taijiler wollen darüber weit hinaus, tatsächlich richten sie mitunter böse Schäden an, weil sie die Sache nicht richtig machen und dann zum Beispiel Aua Knie bekommen. Aber das gehört hier nicht wirklich hin. Das Zweite ist vielleicht der meditative Aspekt, weil das ja ruhige und langsame Bewegungen sind und man sich auf den Ablauf und die Präzision konzentrieren muss. Das war damals auch für mich ausschlaggebend. Dann ist noch die Kampfkunst, hat man sich seinerzeit Anfang der Achziger in D wenig drum gekümmert, weswegen Taijiquan auch nicht in die Sportverbände gekommen ist wie Karate oder Judo, sondern an die Volkshochschulen. Erst mit der Verbreitung des Taiji-Chen Stils kam das Kämpferische wieder ins Bewusstsein. Hier in Wudangshan ist natürlich der Kampf wichtig, aber auch die Gesundheit und auch die Meditation. Aber dazu später.
Ich bin so da reingerutscht, damals. Hat mir gefallen, dann wollten andere wissen was ich da mache und irgendwie bin ich auf diesem Weg plötzlich Taijiquan Lehrer geworden. Nach einigen Jahren wollte ich wissen. ob mich das auch noch interessiert, wenn ich nicht mein Geld damit verdiene und weil es sich anbot, hab ich dann Möbel verkauft. Und für mich weiter gemacht. Wieder mal einige Jahre später hab ich gemerkt, wie egal es mir ist, in welcher Farbe sich Frau O. ihr Sofa kauft. Wäre sie aber bei mir in der Taijiquan Klasse, dann wäre es mir überhaupt nicht egal, wie sie ihre Arme hebt. Deshalb bin ich wieder zum Lehrer geworden. Nicht sofort, erst wollte ich in den Bereich der Anwendung fürs gemeine Volk. Seminare zur Stressbewältigung und so. Ging auch einige Zeit gut, dann kam Krise und ich wurde vom System ausgespuckt. Du verstehst, was ich meine. Jetzt bin ich froh darum, denn auf diese Weise bin ich wieder richtig eingestiegen und als ich 2005 zum ersten Mal nach Wudangshan kam, ging es zum zweiten Mal richtig los.
Der Legende nach wurde in Wudangshan von einem Gelehrten Mönch namens Zhang Sanfeng das Taijiquan erfunden. Das ist auch richtig so, in gewisser Weise, aber eigentlich kann man das so nicht sagen. Naja, das würde jetzt hier zu weit führen. Jedenfalls ist Wudangshan ein Zentrum des Daoismus und ebenso ein Zentrum chinesischer Kampfkunst. Das andere Zentrum ist Shaolin, was im Westen bekannter ist, aber buddhistisch. Deshalb gibt es eben die beiden Zentren, sozusagen eines Yin und eines Yang. Das Wu in Wudangshan bedeutet Kampf, kriegerisch und das heißt deshalb so, weil die Berge dem Unsterblichen Zhen Wu Da Di, dem Wahrhaften Krieger, geweiht sind. Zhen Wu ist auf jeden Fall eine Legende, es gibt keine historische Figur. In etwa so, wie bei uns der Siegfried. Genauso gibt es hier auch alle Plätze, die in der Legende vorkommen und können besichtigt werden. Womit ja bewiesen ist, dass er hier gelebt haben muss. Im 17 Jahrhundert hat der Kaiser Yongle hier jede Menge Tempel, Paläste, Brücken und Tore errichten lassen und dem ganzen Ding noch mal gehörig Aufschwung verliehen. Deshalb gibt es auch hier sehr katholisch wirkende Gottesdienste mit Gesang, Hinknien, Aufstehen und viel Räucherwerk. Aber das interessiert mich nicht. Ich bin hier wegen sehr guter Information, wegen sauberem Training und einem offenherzigen, meditativen Alltag. Nicht klösterlich, nicht Zen, sehr lebendig.