24.05.2018

Die Wildgans spreizt ihre Flügel

Jeden Morgen gehen wir rauf zum Zixiao Gong, wenn die Nonnen die morgendliche Andacht abhalten, und machen gemeinsam das Qigong der 18 Wege vom Berg Wudang. Die zweite Übung heißt: Die Wildgans spreizt ihre Flügel.


Wildgänse sind sehr starke Vögel mit enormer Ausdauer, die in China ebenso wie in Europa jedes Jahr große Entfernungen entlang wohldefinierten Routen zwischen ihren Brutgebieten im Norden und den im Süden gelegenen Winterquartieren zurück legen. Sie sind ein Symbol für Kraft, Langlebigkeit und Anmut. In den Kunlun Bergen, einem Ausläufer des Pamir Gebirges, welche regelmäßig von den Wildgänsen passiert werden, entwickelten dort lebende daoistische Mönche ein an den Bewegungen der Wildgans orientiertes Qigong.
In alten Zeiten nutzten die Chinesen die jährlichen Nord-Süd-Reisen der Wildgänse, um an ihren Füßen kleine Schriftrollen anzubringen und so Nachrichten über weite Strecken zu übermitteln. Die Redewendung 鴻雁傳書 (hóng yàn chuán shū), wörtlich „eine Wildgans liefert eine Meldung“, zeigt anschaulich die Verwendung dieser Vögel als Boten. Mit dieser Praxis wurde die Wildgans im Chinesischen zum Symbol für einen Brief oder einen Schriftwechsel.

13.05.2018

Nach ein paar Tagen

Wir sind dann rauf. Nachdem wir dem Schuhhändler, der mich gleich freudig begrüsste, den Laden zumindest an den besten Schuhen meiner Meinung, leergekauft hatten. Die Taxi fahren jetzt alle mit Uhr und da kostet die Strecke von Supermarkt zum Tor 5 Yuan (60 cent). Früher haben sie uns gerne ohne Uhr mitgenommen und freundlich 10 Yuan verlangt.

Oben sind wir nicht in dem Hostel hinter der alten Akademie, sondern im Tian Lu Hotel, dort wo 2005 alles angefangen hat. Kreise, die sich schließen.

Am Nachmittag erstes Training, Einschätzung des Kenntnisstandes. Wir sind ja nur eine kleine Gruppe, mit mir sechs Leute. Drei lernen die Fünf Tiere, Einer TaijiSchwert, einer die 13er Form und ich Fuchen, die Pferdeschwanz-Peitsche.


Wir trainieren vorwiegend im Tempel, dem Purpurwolken Palast, oben neben der Papamama Halle.

Jetzt sind wir schon einige Tage vor Ort. Die Neulinge haben die Anlaufschwierigkeiten überwunden. Nun geht es darum, diesen wundersamen Geist der Wudangberge zu erfassen. Ich denke, der Zauber hat sie schon umfangen.

09.05.2018

Hin

Auf dem Flughafen werde ich angerufen. Jemand möchte wissen, wann ich in Mainz wieder Kurse anbiete. „Ich bin auf dem Weg nach China“ sage ich so dahin. Weil es für mich etwas fast alltägliches geworden ist, auf dem Weg nach China zu sein. Oder eben dort. Später, als eine meiner Mitreisenden sagt, dass sie kaum glauben kann, dass es jetzt wahr ist. wird mir klar, für andere ist es bei weitem nicht alltäglich. Wie das wohl geklungen hat für den Anrufer?

Vor mir sitzen ältere Herrschaften, die schon vor dem Start etwas von der Flugbegleiterin wissen wollen, was diese aber nicht versteht. Es sind Spanier, weder des Englischen noch des Chinesischen mächtig. Ich kann helfen. Wann es zu essen gäbe. Ob es denn um halb drei was zu essen gäbe. Sie haben auf ihr Mittagessen verzichtet, weil es doch was im Flugzeug gibt. Nun haben sie Hunger.


Von nun an bin ich ihr Freund. Auch wenn ich kurz nach dem Start meinen Platz wechsle, abgesprochen, weiter vor, am Notausstieg. Mehr Beinfreiheit. Aber auch hier kann ich meinem neugewonnenen spanischen Freund helfen, der nicht versteht, wann eine Toilette frei ist.

Nach langen mehr oder minder schlaflosen Stunden die Landung in Peking. Neu werden jetzt auch Fingerabdrücke genommen bei der Einreise. Werden wohl mit den Abdrücken im biometrischen Pass abgeglichen.

Ansonsten hat alles eine zügige Taktung. Wir kommen raus und der Bus zum Westbahnhof steht schon da. Fahrscheine kaufen und ab geht es. Langsam, Berufsverkehr. Wir können in Ruhe die Rosensträucher genießen, die kilometerlang rechts und links der Straßen stehen. Kurz nach unserer Ankunft kommt auch Stephan dazu, der schon am Vortag aus der Schweiz angereist ist. Auch die Abholung der Zugtickets verläuft relativ stressfrei. Da hatten wir schon schweisstreibendere Erlebnisse. Alles Gut. Rein in den Bahnhof, rauf in den Wartesaal und weiter geht es zum Gleis, in den Zug. Bett. Jetzt ist erst mal Ruhe.

In Shiyan werden wir gleich von Fahrern empfangen:“Wudangshan?“ Ja, richtig. Aber falscher Fahrer. Der richtige kommt wenige Minuten später, bringt uns nach Laoying, wo wir Nudelsuppe essen, mal zum Yuxi Vorhof gehen, wo früher die Leute um Yuan Xiugang trainiert haben, aber der ist umgezogen. Ständige Veränderung überall.

07.05.2018

Neues Reisetagebuch

Hiermit beginnt mein neues Tagebuch der aktuellen Reise nach Wudangshan.
Letztes Jahr musste Meister Zhong aus dem Gebäude, welches er angemietet hatte, ausziehen. Er wollte ein Haus am Wulong Gong umbauen lassen und dort seine neue Schule errichten. Aber er bekam keine Baugenehmigung. Nun sind wir weiterhin am Zixiao Gong, dem Purpurwolken Palast, unsere kleine Gruppe in einem Hostel untergebracht. So soll es sein, wie es wird, werden wir sehen.
Noch sitzen wir in Frankfurt am Flughafen und warten auf den Start.
Also, dran bleiben und keine Nachrichten verpassen.
Möge die Übung gelingen.

Altes Holz mit frieschen Trieben

22.04.2018

Neun Gnaden

Lai Zhutang hatte ein Leben in daoistischer Meditation gepflegt und am Ende seiner Tage aufgelistet, welche Gnaden er in seinem Leben empfangen hatte. Er kam auf die Zahl neun und nannte daher sein Bett das Neun Gnaden Lager.

Seine Liste sah so aus:
1) dass er eine Reihe guter Bücher besitze
2) dass seine Frau Freude am Lesen und Schreiben habe
3) dass er keinen Wein trinke
4) dass er nichts vom Schachspiel verstehe
5) dass niemand nach ihm verlange
6) dass er einen berühmten Lehrer gefunden habe
7) dass er mit seiner Familie in solch einer herrlichen Gegend lebe
8) dass er von Krankheiten verschont sei
9) dass er ungebunden wie ein Vogel leben könne


Ting Xiongfei tat es ihm später nach, führte aber andere, mitunter gegensätzliche Gründe als Gnade an. Dies wurde von dem Daoisten Zhang Xinggong kommentiert. Er schrieb, es mache ihn glücklich:

1) dass er nur wenige Bücher besitze
2) dass er keine Frau habe, die ihm mit Lesen und Schreiben zur Last falle
3) dass er trinken kann, wann immer es ihm Freude macht
4) dass er gerne Schach spiele
5) dass er es fertig gebracht habe, seine Abneigung gegen einfache Leute zu überwinden
6) dass er einen Lehrer gefunden habe, aber auch ohne Lehrer auskommen könne
7) dass er sich ohne Familie auf Wanderschaft befinde
8) dass er mit Vorliebe krank sei, um sich tieferen Gedanken widmen zu können
9) dass seine Kinder verheiratet sind und ihn sehr lieben.

Wie gerne würde ich mich ihm in allem anschließen, aber bei den Punkten 4 und 8 habe ich andere Gedanken. Denn ich bin glücklich, mich nie für Brett- oder Kartenspiele begeistert zu haben und auch macht es mich glücklich, kaum ernstlich krank gewesen zu sein in all den Jahren und mir folglich auch keine Sorgen um mein Leben machen musste.

So sieht man, wie unterschiedlich schon einfache Dinge sein können, wenn es darum geht, was einen glücklich macht.