01.11.2021

Der Schein trügt



Der Maler Paul Klee soll mal zu seinen Studenten gesagt haben: „Nicht nach der Natur sollt ihr arbeiten, sondern wie die Natur.“

Wie arbeitet die Natur? Ich denke, der wichtigste Unterschied zum vom Menschen Geschaffenen besteht darin, dass die Natur immer von innen heraus schafft. Alles wächst und entsteht von innen nach außen.

Du könntest ein Vermögen machen, wenn es dir gelingt, ein drei mal drei Zentimeter großes Objekt einzupflanzen, zu wässern und nach einem Jahr steht dort ein Einfamilienhaus.

So aber arbeitet die Natur. Sie entwickelt sich. Im Samen ist das Potential der Blume, des Baums, des Lebens enthalten. Dieses Potential entfaltet sich und pflanzt sich fort. So arbeitet die Natur. Sie schafft es aus sich, von selbst. Das sagt der chinesische Begriff Ziran 自然: Von selbst, aus sich heraus, natürlich. So sollen wir leben. Das ist das daoistische Ideal.

In Wudangshan gibt es ein Tal, Xiaoyao Gu 逍遥谷. Xiaoyao bedeutet „sorglos“ und so nennen wir es das Tal des sorglosen Lebens. Die Sorglosigkeit ist ebenfalls Ziran, natürlich, denn die Natur macht sich keinen Sorgen. Unsere Sorgen kommen aus der Beschaffenheit des dualistischen Denkens. Es eröffnet uns eine andere Perspektive auf die Dinge, anders, als sie gerade sind. Das ist sicherlich in manchen Situationen hilfreich und hat die Entwicklung des Homo sapiens ermöglicht. Wenn wir uns sorgen, dann blicken wir dabei in die Zukunft. Denn auch das ist uns möglich. Wir können an das Morgen, an das Übermorgen denken. Wir können an das Leben unserer Kinder und Enkel denken und uns Sorgen machen, ob sie ein gutes Leben haben werden. Wir beginnen, vorzusorgen.

Wir wissen, dass auch Tiere vorsorgen, Nahrung hamstern für den Winter. Aber wir wissen nicht, ob sie sich Gedanken machen, wie wir, oder ob sie instinktiv handeln. Ob sie es einfach tun, aus sich heraus. Wie alles andere scheinbar auch von selbst geschieht.

Der Planet, auf dem wir leben ist ca. 4,6 Millarden Jahre alt.

Die ersten Formen der Humanoiden tauchten vor ungefähr 2 Millionen Jahren auf, unsere Art, der Homo sapiens vor ca 1 Million Jahren. Was wir Kultur nennen, sesshaft werden, Ackerbau, Vorratswirtschaft, entwickelte sich vor frühestens 16.000 Jahren.

Mit großen Zahlen tun wir uns schwer. Um sich eine bessere Vorstellung machen zu können, hat Wolfgang Beyer eine Webseite programmiert, auf der der Wandel, den die Erde durchlaufen hat, auf ein Jahr zusammengefasst wurden. Also die Erde ist entstanden am 1. Januar um 00:00 Uhr und wir befinden uns jetzt am 31. Dezember 24:00 Uhr. In der letzten Minute vor Mitternacht beginnt die eigentliche Kulturgeschichte der Menschheit. Genauer nachlesen kannst du es hier

Aber jetzt werden die Zahlen zu klein, um es sich vorzustellen. Eine Minute oder zwei Minuten, das erscheint keinen großen Unterschied zu machen.

Wieviel ist denn eine Million, sagen wir mal, in 50 Euro Scheinen? Sie würden in einen kleinen Koffer für Handgepäck passen. Du brauchst Innenmaß 45 x 30 x 20, das kommt ungefähr hin. Allerdings zu schwer für Handgepäck, nämlich 18,4 kg. Aber das ist für unser Gedankenspiel irrelevant.

Du hast also in deinem kleinen Trolley eine Million in 50 Euro Scheinen. Davon nimmst du jetzt mal einen Schein weg. Das sind deine ersten 50 Lebensjahre. In dem Alter bist du dir ziemlich sicher zu wissen, wie der Hase läuft. Oder du bist dir ziemlich unsicher, ob der Hase wirklich so läuft, wie du bisher geglaubt hast. Das nennt man dann midlife crisis.

Dieser eine Schein, den du aus dem Koffer genommen hast, der fällt überhaupt nicht auf. Der Koffer scheint noch genauso voll. Dann nehmen wir doch mal 300 Scheine weg. Das entstpricht 15.000 Jahren, der Epoche menschlicher Kulturgeschichte und ist ein Stapel von 3 cm Dicke. Auch nicht besonders viel.

Was ich dir damit zeigen will; es lohnt sich nicht, sich Sorgen zu machen. Nicht, weil du eine Million im Koffer hast. Die haben wir uns nur vorgestellt. Weil du eigentlich mit leeren Händen gekommen bist und weil du mit leeren Händen wieder gehen wirst. Weil du nur einen kleinen Augenblick hier sein wirst und dabei das Glück hast, das Leben zu erleben. In einem grenzenlosen Kosmos auf einem Planeten mit genau dem richtigen Abstand zu seinem Zentralgestirn und einem Mond, der die Erdachse schräg hält und so verschiedene Klimazonen entstehen, die eine große Variation von Lebensformen ermöglicht. Weil du Sinne und ein Nervensystem hast, mit dem du das alles wahrnehmen und sogar reflektieren kannst. Und weil du die Freiheit der Entscheidung hast, dies alles gut oder beschissen zu finden. Diese Freiheit beschert uns leider auch die Qual des Zweifelns, was uns weit vom sorglosen Leben entfernt.
Mein Tipp lautet, entscheide dich für gut, egal wie es dir geht. Es könnte immer noch beschissener gehen.

Da gerade Sonne und Mond erwähnt wurden, und auch, um die Kurve zum eingangs erwähnten Klee Zitat zu bekommen, schließe ich meine Betrachtungen mit einer Zeile aus William Blakes Gedicht Auguries of Innocence:

„Wenn Sonne und Mond jemals zweifeln sollten, 
würden sie sofort erlöschen.“ 

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