zuerst veröffentlicht im Taijiquan Qigong Journal Special Innere Kampfkünste
Lost in Translation
Wie viel Übertragung findet statt bei der Übertragung eines Begriffs in eine andere Sprache, wie viel erst bei der Übertragung einer Übertragung? Die Geschichte der inneren Kampfkünste fand ihren Weg nach Deutschland in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts hauptsächlich über Amerika. Anfang des Jahrhunderts stützten sich die Interpreten chinesischern Texte vielfach auf französische Übersetzungen, bei denen oft die Jesuiten ihre Finger im Spiel hatten. Der deutsche Pionier Richard Wilhelm war stark geprägt von seinem christlich goetheanischen Weltbild. Der protestantische Alttestamentler Julius Grill, Professor in Tübingen, wollte etwa 80 Parallelen zwischen dem Neuen Testament und dem Buch des Laozi entdeckt haben.
Was kann ein Begriff wie Nei Jia für uns bedeuten?
Hinter Nei finden wir im Wörterbuch: in, innen, innerhalb. Jia heißt in erster Linie Familie, aber auch Schule z.B. im Sinne einer philosophischen Lehre. Also Innere Schule. Innen wovon, und was ist dann das Äußere des Inneren. Wie tief innen ist das Innere?
Bisweilen erhält mein Hemd eine ganz besondere Bedeutung. Wenn es nämlich im Gespräch mit meinen Schülern zu Demonstrationszwecken über die Relativität von Yin und Yang herhalten muss, dass nichts per se Yang oder Yin ist, sondern immer nur in Relation zu etwas anderem. Dann ist mein Hemd Yang, außen, in Bezug zu meinem Körper und dann ist es Yin, innen, in Bezug zu dem uns umgebenden Raum.
Für meine Schüler ist das Hemd in beiden Fällen wahrnehmbar, nicht für eine außerhalb des Raumes befindliche Person, weder in seiner Yang- noch in seiner Yin-Eigenschaft. Für diese ist sein Innensein ein Unbekanntes, selbst wenn wir ihr durchs Fenster zurufen würden: „Hier drinnen ist einer, der trägt ein schwarzes Hemd.“
Warum nicht noch eine Sprache mehr bemühen und „Innen“ griechisch aussprechen: „esoteros“? Nei Jia zur Geheimlehre machen. Alles ist möglich. Zwei einfache Schriftzeichen und eine Menge möglicher Interpretationen.
1. Das Äußere des Inneren
Gerne gibt man in China bei den Kampfkünsten eine berühmte historische Persönlichkeit als Gründer der Methode an. Die Entstehungsgeschichten sind umrankt von Mythen, in denen durchaus auch schon mal die Götter oder Unsterbliche ihre Hand im Spiel haben dürfen. In der 1669 veröffentlichten "Grabrede auf Wang Zhengnan", von Huang Zongxi (1610 1695) wird "der daoistische Unsterbliche Zhang Sanfeng vom Berg Wudang, Begründer der Inneren Schule des Kampfes" genannt. Das muss man vor dem Hintergrund der Zeit sehen. 1641 unternahmen die Mandschu einen großen Einfall in Ming China, bei dem sie 88 Städte eroberten, sechs weitere übernahmen und bis nach Shandong vordrangen. 1644 endete die Ming-Dynastie und wurde von der mandschurischen Qing-Dynastie abgelöst. Die Mandschuren waren von Außen in China eingedrungen und zwangen den Chinesen zunächst ihren Lebensstil auf. Da sich die Mandschuren zum (von Außen eingeführten) lamaistischen Buddhismus bekannten, wurde ihnen die von Innen, aus China, stammende Philosophie des Daoismus in Person des Zhang Sanfeng entgegengesetzt.
2. Das Innere des Äußeren des Inneren
Die Widerstände gegen die Herrschaft der Mandschu drückte sich nicht nur in Manifesten aus. Es bildeten sich Rebellengruppen, die im Untergrund operierten und die Formen von Geheimgesellschaften annahmen. Das Geheime an ihnen war ihre Nichtöffentlichkeit. Diese Gruppen waren zwar geheim, hüteten jedoch keine Geheimnisse.
Ob nun aus einem Missverständnis oder den Tatsachen entsprechend, innerhalb der Kampfkunstszene wird immer wieder von Gruppen gesprochen, die geheime Techniken beherrschen und bewahren. Wobei natürlich nicht gesagt werden kann, was das Geheime sei, sonst wäre es ja nicht mehr geheim.
Es wurden allerdings auch zeitweise Techniken nur aus dem Grund geheim weitergegeben, weil ihre öffentliche Ausübung verboten war. Hier wiederholt sich im Qigong gerade die Geschichte.
3. Das Äußere der Inneren Kampfkünste
Die unter dem Begriff Innere Kampfkünste gefassten Methoden unterscheiden sich in ihren Techniken teilweise extrem. Im Xingyiquan werden die Schritte linear ausgeführt oder in einem Winkel zur Geraden. Füße, Kopf und die führende Hand werden auf einer Linie gehalten, sodass der Kämpfer direkt auf seinen Gegner zugeht bzw. in ihn hinein. Xingyiquan zeichnet sich durch schnelle, explosionsartige Bewegungen aus. Solche finden sich auch noch in dem als das ursprüngliche Taijiquan angesehenen Chen-Stil. In den daraus abgeleiteten anderen Taijiquan-Stilen finden wir eher weiche, runde und fließende Bewegungen. Charakteristisch für Baguazhang ist zum einen das Laufen im Kreis sowie die spiralförmigen Körperbewegungen, die raschen, sich windenden, die Richtung wechselnden Schritte und Handlungen.
4. Das Innere des Äußeren der inneren Kampfkünste
Körperkraft ist ein dem Körper Innewohnendes. Äußere Kraft ist jede von Außen auf einen Körper einwirkende Kraft. Dennoch wird in den Kampfkünsten unterschieden zwischen einer äußeren Körperkraft und einer inneren Körperkraft. Als äußere Kraft wird der durch muskuläre Anstrengung erzielte Aufwand bezeichnet. Die innere Kraft benutzt nicht (direkt) die Muskulatur, sondern wird aus dem Qi (Lebenskraft) entwickelt und mit entspannter Muskulatur auf den Gegner übertragen. Die Anwendung dieser inneren Kraft Qi soll den inneren Kampfkünsten eigen sein und sie von den äußeren Stilen unterscheiden. Wie diese innere Kraft entwickelt und gegen einen Gegner eingesetzt werden kann, darüber wird in den diversen Schulen unterschiedliches ausgesagt. Auch gibt es Meister der inneren Kampfkünste, die verschiedene Methoden der Qi-Entwicklung und -Anwendung beherrschen. Das ist nichts ungewöhnliches, man kann ja auch zwei verschiedene Musikinstrumente beherrschen, oder, um bei dem Beispiel zu bleiben, auch mehrere Musikrichtungen spielen. In den Kampfkünsten wird, vor allem unter westlichen Praktikern, die Anwendung der inneren Kraft gerne mystifiziert. Je weiter man in der eigenen Praxis fortschreitet, desto selbstverständlicher erscheint der Umgang mit der inneren Kraft. Ein Geheimnis, welches man kennt, ist kein Geheimnis mehr.
„ ... ohne Verlangen offenbart sich das Geheime
voller Verlangen offenbaren sich die Formen
beide erscheinen wie eins
doch mit verschiedenen Zeichen
erscheinen im Dunkel
verscheiden im Dunkel
dem Tor aller Geheimnisse“
Laozi Daodejing Kap. 1
5. Das Äußere des Inneren der inneren Kampfkünste
Die inneren Kampfkünste werden generell mit der Philosophie und mit den Prinzipien des Daoismus in Verbindung gesetzt. Das ist durchgängig eine ihrer Gemeinsamkeiten. Als eine der bedeutendsten Schriften wird das oben schon zitierte Daodejing angesehen, einem legendären Laozi zugeschrieben, der im 6. Jahrhundert v.Chr. gelebt haben soll. Ihn als den Begründer des Daoismus zu bezeichnen wäre übertrieben. Er formulierte im Daodejing durchaus schon geläufige Gedanken über ein Leben im Einklang mit dem himmlischen Weg oder der reinen Natur in einer einfachen, aber umso vieldeutigeren Form. Ein weiterer wichtiger Denker der Frühzeit des Daoismus war Zhuangzi, der sich in methophorischen Geschichten äußerte. Nach diesen philosophischen Denkern entwickelte sich um 200 v.Chr. der politisch orientierte Legalismus, basierend auf einer Schrift des Han Feizi, der das Daodejing als Leitfaden des Regierens auffasste. Im 2. Jahrhundert n.Chr. entstanden die ersten Schulen eines religiösen Daoismus. Während der Zeit der Sui - Dynastie (581 - 618) und der Tang – Dynastie (618 – 907) wurde der Daoismus, vor allem durch das Einwirken der Bewegung der Himmelsmeister (tianshi dao), zu einer regelrechten Volksreligion. Unter der letzten Dynastie Chinas, der Qing (1644 – 1911), wurde der Daoismus aus Angst vor einem chinesischen Nationalismus von den herrschenden Mandschus restriktiv unterdrückt. (Siehe oben)
6. Das Innere des Inneren der inneren Kampfkünste
Der zentrale Begriff „Dao“ bedeutet ursprünglich „Weg“ und nimmt dann die Bedeutung eines der ganzen Welt zugrunde liegenden, alldurchdringenden Prinzips an. Es ist die höchste Wirklichkeit, das Eine des Uranfangs, das kosmische Gesetz und Absolute. Aus ihm geht alles (die 10.000 Dinge) hervor, ohne selbst ein Etwas zu sein. Der zweite Begriff im Titel des Buches, „de“, bedeutet Tugend und im Sinne des Daoismus heißt dies, dem Dao zu folgen. So wie sich das Dao im „So-selbst-sein“ der inneren Natur (Ziran) offenbart, soll der Weise das Nicht-Eingreifen (Wuwei) praktizieren. Im Nicht-Handeln löst sich der Weise von den Geschäften der Welt, gelangt zu innerer Ruhe und Gleichmut. Wünschen und Wollen wird vermieden, wenn es nicht im Einklang mit dem natürlichen Lauf der Dinge ist. Das wahre Leben wird verwirklicht, indem man den von selbst ablaufenden Vorgängen des Dao folgt, in vollkommener Gelassenheit selbst angesichts größter Gefahr. Im Wandel der Erscheinungen versetzt sich der Weise in den Mittelpunkt des rollenden Rades, wo Ruhe und Bewegungslosigkeit herrscht. Statt von den Gegensätzen des alltäglichen Daseins umhergetrieben zu werden, vereint er die beiden Kräfte Yang und Yin in sich. Dabei ist der Daoist nicht der Welt abgewandt. Nur durch das Beobachten der Äußerungen des Dao können die Gesetzmäßigkeiten erkannt werden und so kann er sich dem Wandel anpassen.
Die Entwicklung der inneren Kraft oder Qi kann nun verstanden werden als ein Eins-Sein mit dem natürlichen So-Sein des inneren Systems, ein Nicht-Eingreifen in Vorgänge des Organismus. So wie ein Tier seine Kräfte ganz selbstverständlich einsetzt, wie Wasser seinen Weg findet, wie eine Blüte sich entfaltet.
Um diesen Zustand zu erreichen, wurden im Laufe der Jahrhunderte diverse Techniken entwickelt, mehr oder weniger erfolgreiche. Das Ideal höchster Vollendung wird im Daoismus nicht als Erleuchtung sondern als das Erlangen von Unsterblichkeit umschrieben. Das kann man sowohl metaphorisch als auch wörtlich verstehen. So wurde auf der Suche nach dem Elexier der Unsterblichkeit durch Veredelung von Metallen (Waiidan – äußeres Elexier) nebenbei das Schießpulver entdeckt. Hauptsächlich aber widmete man sich diverser Meditations- Atem- und Bewegungstechniken (Neidan-Inneres Elexier), um das Ziel der Langlebigkeit oder Unsterblichkeit zu erreichen. Die ersten Spezialisten in den Künsten der Unsterblichkeit waren die Fangshi, die als einsiedlerische Weise in den Bergen lebten und schamanistische Praktiken anboten. Ihre Spuren lassen sich bis ins zweite vorchristliche Jahrtausend verfolgen.
In den Beschreibungen der Meditations- und Atempraktiken vermischen sich die Symbole der äußeren und inneren Alchemie. Diese Sprache erscheint, erst recht in einer Übersetzung, sehr rätselhaft und geheimnisvoll. Die Texte beziehen sich in weiten Passagen auf die Trigramme des Yijing, dem Buch der Wandlungen, das als Orakel- und Weisheitsbuch bis heute überliefert ist.
In den Beschreibungen der Meditations- und Atempraktiken vermischen sich die Symbole der äußeren und inneren Alchemie. Diese Sprache erscheint, erst recht in einer Übersetzung, sehr rätselhaft und geheimnisvoll. Die Texte beziehen sich in weiten Passagen auf die Trigramme des Yijing, dem Buch der Wandlungen, das als Orakel- und Weisheitsbuch bis heute überliefert ist.
Auch in der abendländischen Alchemie war es gängige Praxis, seine Forschungen z.B. als den Versuch auszugeben, aus Blei Gold herzustellen, um von gierigen Potentaten zumindest vorübergehend ein Sponsoring zu erhalten. So kann ein chinesischer Praktiker mit der Behauptung, seinem Fürsten die Pille der Unsterblichkeit zu entwickeln, für sich eine sorgenfreie Zeit zum Üben und Meditieren raus geschlagen haben.
Prozesse, die eine Entwicklung fördern sollen, müssen in eine Form gebracht werden. Es zeichnet sich als Pragmatismus aus, Übungen zum Erlangen von Stärke, Gesundheit, Verjüngung und Langlebigkeit in die Formen von Kampfkünsten zu kleiden. Immerhin verhilft die Möglichkeit, sich gegen einen starken Gegner wehren zu können auch zu einem längeren Leben.
8. Zur äußersten Mitte
„Voller Verlangen offenbaren sich die Formen“, schrieb Laozi, und dem nach Macht, Reichtum oder ewiger Jugend, der unbegrenzten sexuellen Potenz Gierenden, werden sich nur äußere Formen zeigen, in denen er endlos und erfolglos seinen Wahn verfolgen kann. Er wird sich im Kreise drehend durch das Leben wirbeln, verschwenderisch und ohne Nutzen. Jene, die dem Dao folgen, begeben sich in die Mitte des Kreises. Wie in der Nabe eines Rades, in der die Achse lagert, halten sie sich in Ruhe, die Bewegung betrachtend. Als Mittel können die inneren Kampfkünste dienen, sie sind nicht Zweck. „Ohne Verlangen offenbart sich das Geheime.“
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