05.06.2013

Mit Pfeil und Bogenschritt*


Als Kinder konnten wir auf Trümmergrundstücken, verwilderten Gärten und dem riesigen Holzlager eines Sägewerks spielen. Wir waren eine Bande kleiner Racker und Horst, der uns um zwei Jahre überragte, war unser natürlicher Anführer. 
Eines Tages, als wir wieder einmal Cowboys waren und gerade anscheinend der Saft raus war aus dem Spiel, da sammelte ich einen geraden Zweig vom Boden auf und erklärte, diesen Pfeil gefunden zu haben, es sei Vorsicht geboten, anscheinend seien Indianer in der Nähe. 
Horst lobte mich für meine Aufmerksamkeit und Umsicht, als Auszeichnung bekam ich das ca. 10 cm lange Stück einer Klokette. 
Das passte nun meinem Freund Werner nicht, der mitten im Spiel die Realität reinholte und den Zweig vom Pfeil wieder zum Zweig degradierte. Das habe ich mir doch nur ausgedacht, es seien keine Indianer in der Nähe und mir gebühre die Ehre nicht.

Wir sehen an dieser Episode, dass alles, was Spiel, was Phantasie war, in einer Ehrung mündete, die dann tatsächlich an mir klebte. Diese Ehrung, symbolisiert durch eine Klokette, war in die Realität eingedrungen. Dort gehörte sie, zumindest für einen, nicht hin. Was ist denn eine Ehrung? Ein ausgesprochenes Wort, ein Stück Papier mit lobsamen Titeln, ein Orden, eine Klokette. Alles letztlich nur Phantasie, ausgedachtes Zeugs, eine Produktion des Affentheaters.  Die ganze Ehrung, die den Einen über die anderen heben soll, sollte auf einer Leistung beruhen. Auf einer tatsächlich erbrachten Leistung. Es sollte eine Anstrengung vorausgegangen sein, ein über sich, über das Allgemeine hinauswachsendes Wirken. Es sollte wirklich sein, nicht nur erfunden, nicht nur anerkannt. 

So stellt uns das Leben oder die Gesellschaft Aufgaben, die gelöst und bewältigt werden sollen. Machen wir es gut, bekommen wir Fleißkärtchen, Schulterklopfen, Händedruck, eine Ehrennadel, eine Gehaltserhöhung oder auch nichts. Wurde leider nicht wahrgenommen, übersehen. 

So dachte sich vor langer Zeit einer was aus, eine Art sich zu bewegen, die sich zum Kämpfen eignete und gleichzeitig eine Meditation sein konnte. Keine leichte Sache, das. Da einige daran Gefallen und Nutzen fanden, erhielt es sich, wurde mehrfach überarbeitet, verfeinert, verändert und gelangte letztlich auch in eine andere Kultur. Dort aber landete es nicht bei jenen, die berufsmäßig kämpften (die hatten nur ein müdes Lächeln für die fremde Methode) oder sich in Meditation auskannten, sondern fasste Fuß in einer Subkultur versponnener Halbintellektueller, die gerade eine Revolution verpasst hatten, auf dem Weg in die Landkommune über sich selbst gestolpert waren und in den slow motion Bewegungen einen passenden Ausdruck ihres dauerbekifften Bewusstseins fanden. 
Überraschender Weise gelangte die neue Bewegungsart aus diesem Millieu hinaus in die Volkshochschulen und sogar in einige Sportvereine, immer noch umhaucht von esoterischem Geschwurbel. Aber die neueren Vertreter beharrten auf dem gesundheitlichen Wert und sogar die Krankenkassen ließen sich davon überzeugen. Damit begann die „Institutionalisierung“ ohne dass irgendjemand prüfte, ob das überhaupt etwas Wirkliches und nicht nur Imitiertes, falsch Nachempfundenes sei. Obwohl alle nur so taten als wären sie Cowboys, wurden sie behandelt, als wären sie wirklich welche. Sie wurden respektiert. Kritiker, die behaupteten, das sei alles nicht wirkungsvoll, womit sie ja recht hatten, fanden sich immer weniger. Sie wurden einfach mit asiatischer Weisheit niedergelächelt.
Die wenigen Praktiker, die wussten, was sie da nicht machten, sahen sich gezwungen, der gesellschaftlichen Entwicklung folgend, lächerliche Standards zu entwickeln, nach denen auch eine übergewichtige Hausfrau, so sie denn beide Arme gleichzeitig heben und senken konnte, ein Kursleiter-Zertifikat ausgestellt bekam.

Womit wir wieder bei der Ehrung angekommen sind. China ist ein sehr großes Land mit sehr vielen Menschen. Aber auch dort gibt es nur sehr wenige wirkliche Meister des Taijiquan oder Qigong. Dann gibt es dort eine Menge ganz guter Praktiker, die vielleicht auch Unterricht geben. Und dann gibt es dort noch eine große Menge (aber bei weitem nicht so viele, wie man hierzulande glaubt), die es als eine Art Volkssport betreibt. Höchstens auf dem Niveau einer Fußball-Thekenmannschaft. Ungefähr auf genau diesem Niveau befinden sich die in Deutschland als Ausbilder aktiven Geisterfahrer. Wer also von so jemandem einen Wisch bekommt, auf dem Zertifikat  oder ähnliches steht, der sollte sich darüber im Klaren sein, dafür einen Zweig aufgehoben und ihn zum Indianerpfeil deklariert zu haben. Mehr nicht.


Nachtrag: Nun hat mich ein Leserbrief darauf aufmerksam gemacht, was hier missverstanden werden könnte. Ich beschimpfe, so ich denn schimpfe, nicht die Opfer eines Systems, ich beschimpfe die Täter. Wozu auch ich gehöre. Es war und ist falsch, zu suggerieren, man könne in 300 Unterrichtsstunden, seien sie nun auf drei Jahre verteilt oder in sechs Wochen absolviert, die Qualifikation eines Kursleiters bekommen. 
Eine Fachverkäuferin im Lebensmittelhandwerk mit dem Schwerpunkt Bäckerei verkauft Brot und Backwaren, zum Teil auch kleine Imbisse. Sie bedient und berät Kunden, präsentieren ihre Waren und hält den Verkaufsraum sauber. Dazu braucht sie eine 3jährige Vollzeit-Ausbildung im Geschäft und in der Berufsschule und sie legt eine Abschlussprüfung ab. 
Wer anderen Menschen wirkungsvoll Qigong oder Taijiquan vermitteln will, sollte sich auf eine mindestens ebenso umfangreiche Ausbildung einstellen. Würde man eine entsprechende Anforderung in Deutschland stellen, gäbe es nur wenige, aber dafür wahrscheinlich weitaus bessere Plätze, an denen Qigong und Taijiquan praktiziert werden kann. 
Die chinesischen Künste der Selbstkultivierung mit gesundheitlicher Wirkung sollte man in erster Linie für sich selbst praktizieren, nicht mit missionarischem Eifer.

*Der Bogenschritt, Gong Bu 弓步 ist der wohl häufigste Schritt im Taijiquan, mit dem Gewicht zu ca. 70% auf dem vorderen, gebogenen Bein, das hintere Bein gestreckt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen