29.12.2017

Der alte Jia

Oberhalb des Zixiaogong, dem Palast der Purpurnen Wolken, in den Wudang Bergen, befindet sich die Höhle des Prinzen - Taizidong. Dort lebt der alte Jia Yongxiang, auch Bienen Daoist genannt, weil sich über viele Jahre ein Bienenschwarm in einem alten Schrank auf seiner Terrasse eingenistet hat.
Dieser Beitrag ist ein kleines Lehrstück über Internet Informationen.
Es gibt irgendwo im Netz eine Webseite, die über Wudangshan berichtet, der Autor aber offenbar noch nie dort war. Es heißt über die Höhle des Prinzen, sie würde noch heute von den Bienen Daoisten (Plural!) genutzt. Als würde es eine Sekte der Bienen Daoisten geben.

Wir unterhielten uns heute über den alten Jia und es tauchte wie immer die Frage nach seinem Alter auf. Da ich einmal einen Artikel einer chinesischen Zeitung über ihn gefunden hatte, wusste ich, er ist nicht so alt, wie meist vorgegeben wird. Auch den chinesischen Mönchen gefällt es, von dem Hundertjährigen zu reden. Im Internet wird er oft schon auf mehr als hundert Jahre alt ausgegeben. Dabei schreiben die meisten wortwörtlich von einander ab.
Beispiel: "... he has been living as a hermit for about 30 years. It is unknown how many years he exactly is, but some people say that he is more than 100 years old." (http://zhendaopai.com/daoist-monk/)

Photo vom 19. Juni 2015


Nun, ich habe natürlich den Artikel vom Mai 2011 wieder gefunden und hier einige Auszüge, die ich für realistisch halte.

"The 76-year-old, wearing a well-worn Taoist hat and dark blue robe, laughs happily..."
Demnach ist der alte Jia jetzt ca. 82 oder 83 Jahre alt. 

"Jia was a farmer in Xiangyang, Hubei province, and was diagnosed with hepatitis, gastritis, pneumonia and an inflamed gall bladder more than 20 years ago.
At first he grew vegetables at the foot of the mountains and for a while lived in a small garden building."

"He moved to the cavern in the 1990s, where he could practice Taoism alone, doing meditation and chanting."

"Enjoying his simple life in the remote place, he has never left the area around the cavern for years. He gets up at 5 am, then does his daily morning prayer and meditation. After breakfast, he cleans the cavern, including the long stone path."

"Listening to the radio and reading are his only ways to keep in touch with the outside world.
"I subscribe to newspapers and magazines and read them every day, as I'm concerned about national affairs," he says."


Ich liebe den alten Jia und ich amüsiere mich auch gerne über die Übertreibungen, die anscheinend den Medien, auch den 'seriösen', innewohnend sind. Die Wirklichkeit, so wie sie ist, erscheint mir schon faszinierend genug. Den meisten Menschen wohl nicht. Sie müssen immer noch einen drauf setzen. Möge der alte Jia noch lange leben, damit man ihn bald schon als 200jährigen ausgeben kann.  

13.12.2017

Gefühle nach dem Kalender

Eigentlich ist es ja ein bißchen merkwürdig: wenn nur noch wenige dünne Kalenderblätter den Abreißer vom 24. Dezember trennen, so senkt sich jenes weihnachtliche Gefühl auf ihn hernieder, das ihr alle kennt. Er wird ein bißchen weich, er wird ein wenig träumerisch, und wenn der ganze Apparat des Einkaufs vorbeigeklappert ist, wenn all das Tosen und Wirken vorüber ist, dann saugt er doch an seiner Weihnachtszigarre und denkt sich dies und das und allerlei. Aber wie denn? Kann man denn seine Gefühle kommandieren –? Kann man denn – nach dem Kalender – seine Empfindungen regeln?

Man kanns nicht. Der Schnurriker Mynona erzählt einmal die Geschichte vom Schauspieler Nesselgrün, dem es plötzlich einfiel, sein ihm zustehendes Weihnachten im August zu feiern – und unter unendlichem Hallo geht denn diese deplacierte Festlichkeit auch vor sich. Aber wir haben doch gelacht, als wir das lasen. Könnten wir andern das auch? Es ist wohl nicht nur die Furcht, uns lächerlich zu machen – es muß noch etwas anderes sein.

Der Grund, dass wir wirklich – jeden Weihnachten – in jedem Jahr – immer aufs neue imstande sind, genau um den 25. Dezember herum die gleichen starken Gefühle zu hegen, liegt doch wohl darin, daß sie sich angesammelt haben. Es muß doch irgend etwas da sein, das tropfenweise anschwillt, das ganze Jahr hindurch.

Schließlich ist doch der Kalender etwas ganz Äußerliches, Relatives, wir sind in gewisser Hinsicht mit ihm verwachsen – aber die Zeit ist nicht in uns, wir sind in der Zeit. Und das kleine Blättchen, das den Vierundzwanzigsten anzeigt, ist kein Grund, es ist ein Signal und ein Anlaß.

Ich habe immer das Gefühl, als ob wir jede Woche im Jahr weihnachtliche Empfindungen genug aufbrächten – aber gute Kaufleute, die wir sind, legen wir sie ›in kleinen Posten‹ zurück, bis es sich einmal lohnt. Im Dezember ist dann das Maß meist voll.

Ist es nicht schließlich mit jedem Gedenktag so –? Warum sollen wir gerade am neunzehnten an sie denken, und warum nicht einen Tag später –? ›Heute vor einem Jahr – -‹ ach Gott, entweder wir empfinden immer, dass sie auf der Welt ist – oder wir empfindens am neunzehnten auch nur konventionell. Gefühle nach dem Kalender –: das geht nur, wenn der Kalender sie ins Rollen bringt.

Gefühle nach dem Kalender ... Wir haben alle nur keine Zeit, um gut zu sein, wie? Wir haben nur alle keine Zeit. Und müssen tausend- und tausendmal herunterschlucken und herunterdrücken und sind vielleicht im Grunde alle froh, allweihnachtlich einen Anlaß gefunden zu haben, den gestauten Sentiments freien Lauf zu lassen. Wer erst nach dem Kalenderblatt sieht, sich vor den Kopf schlägt und »Ach, richtig!« ruft – dem ist nicht zu helfen.


Vielleicht hat diese neue – ehemals große – Zeit manches am deutschen Weihnachtsfeste geändert. Ich weiß nicht, obs innerlich geworden ist. Es täte uns so not – nicht aus Gründen der Religion, die jedermanns Privatsache ist – sondern aus Gründen der Kultur. Diesem Volk schlägt ein Herz, aber es liegen so viel Kompressen darauf.

Reißt sie ab. Wagt einmal (was besonders dem Norddeutschen schwer und sauer fällt), wagt einmal, geradeaus zu empfinden. Und wenn euch das Fest nach all dem, was geschehen ist, doppelt lieb, aber doppelt schwierig erscheint, dann denkt daran, wie ihr es im Feld gefeiert habt, und wo – und denkt daran, wie es ein Halt gewesen ist gegen die Lasten des äußern und innern Feindes, und wie schon das Datum, wie schon der Kalender Trost war in verdammt schwarzen Tagen. Und – weil wir hier gerade alle versammelt sind – denkt schließlich und zu guter Letzt – auch an etwas anderes.

Nach dem Kalender fühlen ... Aber habt ihr einmal geliebt ... ? Die Damen sehen in ihren Schoß, und die Herren lächeln so unmerklich, dass ich von meiner Kanzel her Mühe habe, es zu erkennen. Also ihr habt geliebt, und ihr – ich sehe keinen an – liebt noch. Nun, ihr Herren, und wenn sie Geburstag hat? Nun, ihr Herren, und wenn der Tag auf dem Kalender steht, an dem ihr sie zum erstenmal geküßt habt –? Nun?

Ihr feiert das. Was im ganzen Jahr künstlich oder zufällig zurückgedämmt war – er bricht – wenns eine richtige Liebe ist – elementar an solchem Tage hervor aus tiefen Quellen. Der Tag, dieser dumme Tag, der doch gleich allen anderen sein sollte, ist geheiligt und festlich und feierlich und freundlich – und ihr denkt und fühlt: sie – und nur sie. Nach dem Kalender ... ?

Nicht nach dem Kalender. Ihr tragt alle den Kalender in euch. Es ist ja nicht das Datum oder die bewußte Empfindung, heute müsse man nun ... Es ist, wenn ihr überhaupt wißt, was ein Festtag ist, was Weihnachten ist: euer Herz.

Laßt uns einmal von dem Festtags-›Rummel‹ absehen, der in einer großen Stadt unvermeidlich ist. Laßt uns einmal daran denken, wie Weihnachten gefeiert werden kann, unter wenigen Menschen, die sich verstehen. Das ist kein Ansichtskarten-Weihnachten. Das ist nicht das Weihnachten des vierundzwanzigsten Dezembers allein – es ist das Weihnachten der Seele. Gibt es das –?

Es soll es geben. Und gibt es auch, wenn ihr nur wollt. Grüßt, ihr Herren, die Damen, küßt ihnen leise die Hand (bitte in meinem Auftrag) und sagt ihnen, man könne sogar seine Gefühle nach dem Kalender regeln: zum Geburtstag, zum Gedenktag – und zu Weihnachten.

Aber man muß welche haben.


Peter Panter (Kurt Tucholsky)

Berliner Tageblatt, 24.12.1919, Nr. 616.