10.10.2016

Wie meine Tage hier vergehen.

Morgens geh ich meistens kurz vor sechs in den Tempel. Der ist hier gleich ums Eck. Der Mann von Frau Qu macht schon mal das Warenhaus für den Kundenansturm zurecht. Mehr dazu später. Der alte Torwächter, über den man wahrscheinlich auch ein ganzes Buch schreiben könnte, schaut mich mit stoischem Gesicht flüchtig an, erwidert meinen Gruß nie. Manchmal flucht er. Dann hat er wohl seinen guten Tag.



Oben, der Tempel liegt am Hang und deshalb müssen erst hundertfünfzig Stufen bewältigt werden, bereiten einige Nonnen den Tempelinnenraum für die Morgenrezitation vor. Dinge werden an ihren Platz gerückt, Räucherwerk verteilt. Eine stellt sich vor die große Trommel und legt mit zwei Klöppeln ein einminütiges Solo hin. Die Musiker stimmen sich und ihre Instrumente. Dann kommen acht weitere Nonnen, die sich gelbe Umhänger überziehen und ihre Plätze vor dem Altar einnehmen. Die Tempelhalle ist zwar geräumig, aber über die Hälfte gehört zum Altarraum. Für die Gläubigen ist nicht so viel Platz vorgesehen. Kommen aber auch selten viele. Das ist ja hier keine Kirchengemeinde mit großem Einzugsgebiet. Die restlichen Nonnen, ein paar Pilger, jetzt oft auch die Kids unserer Schule, dafür ist reichlich Platz. Wenn’s mal richtig voll wird, so wie morgen, dann stehen die meisten draußen. So wie ich, nachdem ich meine drei Verneigungen gemacht habe. Die mache ich nicht aus einer religiösen Überzeugung, sondern weil es mir früher verdammt schwer gefallen ist. Da musste ich einiges im Innern überwinden und damit sich das nicht wieder unnötig aufbaut, mache ich morgens meine Verbeugungen. Draußen ziehe ich meine Qigong Form durch - 18 Wege - halbe Stunde, dann noch eine viertel Stunde stehen. Runter zum Frühstück.

Meistens gibt es Nudelsuppe und die allein ist schon ein Grund für mich, hier zu sein. Die nehme ich gerne draußen auf der langen Terrasse ein. Ich bin derzeit der einzige Ausländer hier. Zum Essen gibt es einige Regeln, eine davon ist, dass nicht angefangen wird bevor alle am Tisch sitzen, dann kommt die Danksagung und bis die gesprochen ist, bin ich mit meiner Suppe draußen schon fast fertig. Auch wird nicht geredet beim Essen, sodass mir keine wichtige Konversation entgeht.

Danach sauber machen; Stube, Wäsche, sich selbst. So in der Art. Ah! Vorher trink ich meine Tasse Kaffee, bin ja wieder vereint mit meiner wunderbaren Rommelsbacher.
Ich hab ja mein Zimmer, immer das gleiche. Anfangs deswegen, weil dort noch Wifi empfangen wurde. Dann wurde der Router ins Erdgeschoss verlegt und Schluss mit wifi, aber das gleiche Zimmer. Jetzt hab ich aber das geheime Passwort von Zhong Shifus privatem Router und der steht zwei Zimmer weiter. Ich meine, Internet, das bedeutet hier, dass ab und zu mit dem Bus ein Paket Bits und Bites hoch gebracht werden. Die lässt man frei und jeder fängt sich schnell soviel er bekommen kann. Obendrein verlangsame ich meinen digitalen Umgang mit Hilfe eines VPN, aber ohne den säße ich vollends auf dem Trockenen. Die hübschen kleinen überflüssigen Filmchen auf Facebook zum Beispiel, die kann ich mir nicht anschauen. Die bleiben nach ca 12 Sekunden stehen. 

Viertel vor Neun ungefähr ziemlich genau etwa beginnt die vormittägliche Trainingseinheit. Die Kids haben ihr Spezialprogramm, ich lerne eine lange Schwertform, aber die erste Stunde gehört den Brokatübungen und einem weiteren Qigong, meistens Stehen - Zhan Zhuang.. Pause, dann Form. 
Derzeit ist der Chef krank. Dicken Hals. Gehört ins Bett. Aber er widmet mir täglich zwei Mal eine halbe Stunde, schweigend. Braucht ja auch nicht reden; er macht vor, ich mach nach. Ich versteh, was er da macht. Ich bin schon lange genug dabei und hatte gute Lehrer. Er ist einer der Besten. Wenn er mir etwas zeigt, wird es mir klar. Das war schon immer so. Lehrer Li hatte mir einen neuen Schritt im Baguazhang gezeigt, ich hab geübt. Dann kam Guan Yongxing und hat es korrigiert - ach so. Ich hab geübt. Dann kam Meister Zhong, hat mich fragend angesehen, hat mir das gleiche noch mal gezeigt, es wurde mir klar, ich hab es verstanden. 

Nach dem Mittagessen ist Ruhe. Das heißt, ich erledige meine Post und überprüfe die „Gefällt mir“ Anzahlen auf Facebook. Die Bilder vom Sonnenaufgang am Sonntag liegen derzeit vorn, s war aber auch berauschend schön. Dann mach ich noch ein Nickerchen, halbe Stunde und übe auf der Xiao. 

Am Nachmittag ist wieder Training, vor allem einpauken der neuen Schritte und Verständnis vertiefen. Nie vergessen, dass es Taiji ist, auch wenn weiter geöffnet wird als in der Handform. Es gelten die gleichen Prinzipien. In der letzten Stunde spiele ich fast alle Formen noch mal durch, 28, 13, Taihe, Bagua, Xuanwu, Taiyi Wuxing…
oft spielt Frau Guo mit und wo er kann, klinkt sich Herr Gao auch ein.
Jeden zweiten Tag allerdings unterbreche ich das Training und gehe zum Xiao Unterricht bei Hu Yang. Sie macht das sehr, sehr gut. Legt einen Affenzahn zu, weil wir ja nur gut drei Wochen Zeit haben, um mir die wichtigsten Methoden beizubringen. Damit ich im Winter genug zu üben habe. Ich weiß auch nicht was mich geritten hat, als ich im Sommer plötzlich runterging und Meister Zhong sagte, ich wolle die Flöte lernen. 


Nach dem Abendessen je nach Wetter kurzen Spaziergang, etwas Flöte spielen, Computer, Heia. Diese Woche kein Spaziergangswetter aber nächste Woche soll es wieder wärmer werden. Auch nicht gerade der Knaller aber so um die 20 Grad.

05.10.2016

Be Yourself

Ein vermeintlich guter Rat

Er verbreitet sich in den sozialen Medien, mit hübschen Bildchen hinterlegt auf Facebook, in Schönschrift und mitunter dem Dalai Lama, Rumi oder Albert Einstein zugedichtet. Be Yourself, in dieser kurzen Version oder auch etwas ausgeschmückt, versuche nicht, ein anderer zu sein, als der, der du bist. Manchmal auch etwas veralbert, wie: Sei immer du selbst, es sei denn du bist ein Einhorn, dann sei ein Einhorn.

Das klingt alles auf den ersten Blick recht einleuchtend. Warum soll man auch jemand anderer sein, als jener, der man ist. Wie kann ein Mensch überhaupt jemand anderer sein. Offenbar kommt der Tipp aber gut an, er wiederholt sich nun schon seit geraumer Zeit, mal anders gewandet und immer mit viel Zuspruch. Aber nun mal Spaß beiseite, vergesst es. Lasst die Finger davon, greift nicht dahin, es ist die Festigung einer Illusion, ein alberner Trick des kollektiven Bewusstseins. Stimmst du zu, schnappt die Falle zu. Zack. Du bist du selbst, ohne zu wissen, wer du bist.

Wer oder was soll es denn sein, dieses oder dieser Selbst. Womit, mit welcher deiner inneren Institutionen identifizierst du dich in dem Augenblick, in dem du zustimmst, du selbst zu sein, es immer bleiben zu wollen? Und wer ist jener, der zustimmt? Was ist mit dem Körper? Die meisten Menschen, die ich darauf anspreche betrachten den Körper einerseits nur als ein Fahrzeug, in dem der/die eigentliche Selbst sitzt, andererseits als ein Mängelbauteil, an dem noch einiges zu ändern sei, um mit sich selbst zufrieden zu sein. Mit den Emotionen sich zu identifizieren ist Unsinn, dazu sind sie viel zu flüchtig. Die eigene Meinung beziehungsweise den Meinenden als Selbst ansehen? Noch nie die Meinung geändert? Nein nein, das kann es alles nicht sein. 

                

Wenn wir alles Erworbene ablegen können, die Verhaltensweisen, die unserer Kultur und dem sozialen Umfeld geschuldet sind, die Rollen, die wir spielen, die Masken, welche wir dabei aufsetzen, unsere ganzen Werte, Moralvorstellungen, alles, was wir noch nicht hatten, als wir zur Welt kamen, dann nähern wir uns dem Selbst. Zu sein wie neu geboren, das wird bei Laozi (dem Echten) des öfteren gelobt.

Kapitel 10 … das Qi sammeln, geschmeidig bleiben, wie neu geboren… 
Kapitel 20 …ich allein bleibe still, ohne ein Zeichen, wie neu geboren, ohne ein Lächeln, verwirrt verirrt im Nirgendwo 
Kapitel 55 Wer des Wandels Fülle in sich fühlt, ist wie neu geboren…

Zurückkehren zum Ursprung ist daoistisches Leitmotiv, das Ziel der Kultivierung. Natürlich zu sein, ohne Wünschen und Wollen, Ziran, ganz aus sich selbst heraus. Wenn du wirklich alles ablegen kannst, was du bisher für dein Selbst gehalten hast, was du glaubst, immer sein zu müssen - be yourself - dann wirst du leer. Wie ein Spiegel, in dem die Anderen sich erkennen. Wie ein Gefäß, das nach Belieben gefüllt werden kann. Du bist die Leere, du bist die Form. Die Füllung geht in dich ein und wieder aus, hat weder Dauer noch Bestand. Es ist wie die Luft, die du atmest, die Nahrung, die du aufnimmst. Was davon bist du?

Form macht die Leere nutzbar, Leere gibt der Form ihren Sinn. 
 Always be yourself, except you are empty, then be emptiness.