14.11.2011

Vortrag beim Taiji-Kongress 2009

Zurückkehren zum Ursprung

Das hat nichts mit meinem Verständnis von Taijiquan zu tun, war meine spontane Reaktion, als ich die Einladung zu diesem Kongress bekam. „Dann musst du dahin gehen und das sagen“ meinte meine Freundin und Kollegin Ramona. Mir fiel spontan die Geschichte von Zhuangzi über Ungeschiedenes Urwesen ein:

Der Herrscher über das Südmeer wurde Licht genannt, der Herrscher über das Nordmeer Finsternis, und der Herrscher über das Königreich der Mitte Ungeschiedenes Urwesen. 
Von Zeit zu Zeit trafen sich Licht und Finsternis im Königreich des Ungeschiedenen Urwesens, das sie herzlich willkommen hieß. Licht und Finsternis wollten ihm seine Freundlichkeit vergelten und meinten: „Alle Menschen haben sieben Öffnungen, mit denen sie sehen, hören, essen und atmen, Ungeschiedenes Urwesen hat jedoch keine einzige. Wir wollen versuchen, ihm einige zu geben.“ Also bohrten sie jeden Tag ein Loch, und am siebten Tag da starb Ungeschiedenes Urwesen.*

Als ich letztes Jahr in China war, in den Wudangbergen, da hatte man die Gästezimmer der Akademie gerade frisch renoviert und neu möbliert. An einem der nächsten Tage kamen zwei Männer mit einem langen, niedrigen Tisch und einem Hocker, stellten den Tisch vors Fenster  und den Hocker darauf. Ich nahm gleich den Hocker wieder runter und probierte aus, wie es sich damit an dem Tisch sitzen ließ.
„Nein, nein“, belehrte mich einer der beiden, stellte den Hocker wieder auf den Tisch, setzte sich dann auf den Tisch und zeigte mir, wie man von dort die Landschaft genießt und einen imaginären Trinkbecher auf dem „Hocker“ abstellt. 
Ich hatte mir die beiden Möbelstücke aus meiner kulturellen Perspektive betrachtet. Das kleine Ding war zum drauf sitzen und das große zum dran arbeiten. Aber in Wirklichkeit war das, was ich für den Tisch gehalten hatte, zum drauf sitzen und mein Hocker war der Tisch.

Wir betrachten die Dinge der Welt aus unserer Perspektive, vor unserem kulturellen Hintergrund.  Wir haben eine tief in uns sitzende Grundeinstellung. Wir schwimmen darin wie der Fisch im Wasser. Es ist eine so selbstverständliche „Umgebung“, dass sie uns nicht oder nur selten einmal bewusst wird. Diese Grundeinstellung zu ändern, ja nur einmal in Frage zu stellen, ist sehr schwierig, manchmal geradezu unmöglich.. Das geht nicht so einfach.
Viele Konzepte in unserem Leben sind uns so selbstverständlich, dass wir sie noch nicht einmal zu formulieren wüssten. So haben wir uns und die Dinge in ein Koordinatensystem eingerichtet, in dem wir uns zurecht finden. Unsere Sprache spiegelt unsere Einstellungen oder prägt sie.
Die letzte Woche liegt hinter uns und die kommende vor uns – oder?  Ist das so? Wir erfahren unser Dasein auf einer horizontalen Zeitachse. Wir halten das für normal. Die chinesische Zeitachse ist hingegen vertikal oder zumindest geneigt. Es geht nach unten. Die Vergangenheit liegt oberhalb, die Zukunft unterhalb des Jetzt. „Zeit fließt wie Wasser“  und Wasser fließt bekanntlich nicht bergauf. Wie angenehm, so in die Zukunft hinein zu fließen.  
Meister Wu Maogui zeigte in meinem Studio auf eine Kaligrafie mit dem Schriftzeichen Dao. „Das hat man in China nicht an der Wand hängen“, sagte er, „das hat man in sich drin.“
Man setzt sich also auf den Tisch, trinkt sich eins und genießt die Aussicht. Ein Teil dieser wunderbaren Landschaft, in der Zhang Sanfeng der Legende nach Taijiquan entwickelt habe soll, ist das Tal des sorglosen Lebens. Ein Tal so zu nennen, das ist doch Lebenskunst. 

Die Grundeinstellung in China ist anders. Auch nach sechzig  Jahren Kommunismus und Staatskapitalismus. Auch nach einer Kulturrevolution, in der alles Alte, Traditionelle verpönt und bekämpft wurde. In den frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts lebten nur noch einige alte Mönche in Wudangshan. Eine ganze Generation fehlte. Nun kommen auch wieder junge Leute dort hin, lernen und treten in die Klöster ein. Die neue Bedrohung heißt Tourismus. Ich bin mir sicher, das Dao wird auch diese Marotte überleben.

Das von Zhang Sanfeng erfundene lange Boxen Changquan erhielt irgendwann einmal den Namen Taijiquan, nach dem  Symbol der beiden sich umschlingenden Tropfen, der Harmonie von Yin und Yang. Für mich symbolisiert es die höchste Einheit, die Aufhebung der Gegensätze.
 Man könnte nun mit Recht erwarten, dass ich hier mein Verständnis von Taijiquan erläutere. Ich kann es nicht. Taijiquan ist für mich Taijiquan. Ich stelle mich hin, hebe die Arme und los geht’s. Das mache ich so seit über 30 Jahren, und seit über 30 Jahren bin ich nicht fähig, anderen zu erklären, was ich da tue. Inzwischen weiß ich, dass ich auch immer wieder eine neue Erklärung finden müsste, denn es ändert sich ständig. 
Als ich damit anfing, meine ersten Begegnungen, fanden im Umfeld der Nach Hippie Ära des New Age statt. Taijiquan als eine Meditation in Bewegung, etwas Spiritualität und sehr viel Selbsterfahrung. Die Gestalt therapeuten wollten Taiji integrieren und die modernen Tänzer wollten es auch. Inzwischen hat sich ein nicht unbedeutender Zweig von Praktikern gebildet, die den gesundheitlichen aspekt betonen. Was ja auch hier auf dem Kongress Thema ist. 
Meine Kritik daran
wenn Menschen etwas tun, bei dem sie die Sorgen des Alltags vergessen können und sich etwas entspannen, dann ist das gut für ihre Gesundheit. Egal ob sie nun im Chor singen, gärtnern, töpfern, oder eine Fremdsprache lernen.
Gesundheit ist in Deutschland das Territorium der Mediziner. Und da lassen die ungern jemand hinpinkeln. Vor 40 jahren konnte man noch den Heilpraktiker machen, wenn man das Seuchegesetz kannte und wusste, was man als HP nicht darf. Heute legst du ein Medizinstudium hin, ohne dass du hinterher Medizin praktizieren darfst. 
Je mehr wir auf  den Geldtopf schielen, aus denen Ärzte ihre Honorare beziehen, desto enger wird man uns die Eingangstüre zimmern.
Musik ist schön und kann gut sein für die Gesundheit, Musiktherapie ist etwas aanderes. Malen ist schön und kann gut sein für die Gesundheit, aber therapeutisches Malen ist was anderes. Mit Taijiquan sollten wir es nicht anders halten..

Wenn ich Taijiquan spiele, dann versuche ich, eine Einheit herzustellen. Zunächst einmal eine Einheit mit mir selbst. Alles Trennende in mir aufheben. Hand und Fuß, Kopf und Bauch, hinten und vorne, innen und außen, Knie und Ellbogen, alle diese Unterscheidungen, diese Teilaspekte meines Körpers, meines Denkens und Fühlens sollen verschmelzen zu einem Wesen. Wenn mir das gelingt, wenn ich die sieben Öffnungen wieder verschließen kann, bin ich sehr glücklich. Das ist mir schon Grund genug, Taijiquan zu spielen. 
Im Daoismus nennen wir dies: Zurückkehren zum Ursprung. Zum ungeschiedenen Urwesen werden. Mit den Bewegungen des Taijiquan, in ständiger Rezitation, können wir diese Einheit erfahren. Es gibt schlichte Anweisungen, wie Taijiquan auszuführen sei. Beschreibungen, die erklären, wie Bewegung zu einer Taijiquan - Bewegung wird. Es gab Zeiten, in denen ich ohne Lehrer weiterkommen musste. Ich halte es für wichtig, einen Lehrer zu haben. Auch nach dreißig Jahren Praxis und eigener langjähriger Lehrtätigkeit. In diesen Zeiten ohne Lehrer waren mir die klassischen Schriften eine große Hilfe. Vor allem das Taijiquan Lun von Zhang Sanfeng. Hier wird in wenigen Sätzen alles gesagt. Lässt man diese Aussagen tief in sich eindringen, ruft man sie sich in der Praxis ins Gedächtnis, dann kann man wahrhaftig Taijiquan lernen und zurückkehren zum Ursprung.
Als erstes, so heißt es, sei die Bewegung aus einem Guss, dazu muss der Körper gelöst und kraftvoll sein. Davon muss man durchdrungen sein, es muss sich wie ein roter Faden durch den ganzen Körper ziehen. Deshalb wird es auch übersetzt, die Teile des Körpers seien wie die Perlen auf einer Schnur. Man kann das nicht oft genug betonen und erinnern. Ist der Körper nicht in gelöstem Zustand, sind seine einzelnen Teile nicht kraftvoll verbunden, dann stagniert das Qi. In diesem einen Satz ist schon alles gesagt. Nur ist es nicht so einfach in der Praxis. Gelöst und kraftvoll bedeutet entschlossen. Entschlossenes ist offen, aufnahmebereit und lebendig. Wie eine geöffnete Hand, bereit etwas aufzufangen. Wie ein Grashalm, der unter Deinem Gewicht nachgibt und sich beugt, ohne zu brechen, und sich wieder aufrichtet, als sei nichts gewesen. Das ist wirkungsvoll im gelösten Zustand. Wer sich zu etwas entschließt, der war dem gegenüber zuvor verschlossen. Hat an etwas anderem festgehalten. Loslassen ist ganz einfach. Man öffnet die Faust. 
In dem Film „Die lustige Welt der Tiere“ von Jaymie Uys verbuddlt ein Buschmann auffällig und für Affen sichtbar etwas in einem engen Loch in einem Termitenhaufen.  Ein neugieriger Affe steckt seine Pfote hinein, greift zu und will nicht mehr loslassen, auch wenn er dadurch gefangen wird. Nun sollten wir etwas intelligenter sein als diese Affen, aber oft genug erleben wir, wie schwer es fällt, los zu lassen. Wer festhält, nimmt sich selbst gefangen. 
So wie man die Faust öffnet, kann man auch den ganzen Körper öffnen. Den Körper als ganzes,  als eine Einheit, als auch in seinen Teilen. Man kann sich sehr leicht im Stehen oder Sitzen vorstellen, wie sich der Körper öffnet. Die Faust öffnet sich von Innen, aus ihrer Mitte und so öffnet sich auch der gesamte Körper aus seiner Mitte. Du lässt los, was du in deinem Innersten festhältst. Du lässt es los und in die Welt treten. So beginnt mein Taijiquan. 

 *Tschuang Tse, Glückliche Wanderung, Eine neue Bearbeitung von Gia-Fu Feng und Jane English, Deutsche Übersetzung: Sylvia Luetjohann, Irisiana 1980



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