11.10.2008

Lilo in Wudangshan, die Letzte

06.10.08


Obwohl wir im Moment wunderbares ruhiges Herbstwetter haben und ich morgens mit einem fantastischen Blick in die Berge erfreut werde, ist doch nicht zu leugnen, dass der Winter nicht mehr weit ist. Hier kann es bereits Mitte Oktober den ersten Schnee geben. Hoffentlich erst, wenn ich weg bin, denn darauf bin ich nun wirklich nicht eingestellt und Youkis Winterkleidung
dürften mir beim besten Willen nicht passen (die Kekse...). Morgens ist es so empfindlich frisch, dass ich meine Tracht gerne noch mit einer Weste und einer Jacke versehe, was der strenge Meister nicht gern sieht. Gefällt ihm gar nicht. Wir sollen alle schön einheitlich rumlaufen und er läuft ja auch bei jedem Wetter immer nur im weißen Kostüm mit T-Shirt drunter herum. Ich habe ihn tatsächlich noch nie mit Jacke gesehen. Seine Mitspieler tragen wenigstens hin und wieder mal eine schwarze Jacke - auch das Einheitskluft der Schule - legen die aber sofort ab, wenn es richtig losgeht. In einem unbeobachteten Moment frage ich Zhang Zen, ob ihm das nichts ausmacht, bei der Kälte mit den dünnen Klamotten. Er grinst, blickt sich kurz um, dann zeigt er mir sein Geheimnis: nix Qi - Ski-Unterwäsche ist sein Geheimnis!

Während wir unbedarften Schüler uns bei Kälte also einfach warm anziehen, steht der wetterfeste Meister vor uns, seine Verachtung für uns Weicheier nur sehr schlecht verbergend. Wir üben halt noch.
Nachmittags ist es meist schon viel kuscheliger, da kommen wir dann schon ordentlich gewandet, besonders wenn ein Tempelbesuch in Aussicht steht. Im Moment sind die Feierlichkeiten zu Ehren von Zheng Wus Geburtstag in vollem Gange. Da wollen wir natürlich die Innung nicht blamieren.
Heute Abend fehlte Guan beim Abendtraining. Wichtige Geschäfte? Nein, liegtim Bett, erkältet hat er sich, der Ärmste! Da wünschen wir doch gute Besserung und empfehlen, sich waaaarm anzuziehen.

Nach dem Training begegnet mir Grace im Treppenhaus, offensichtlich aus der Gemeinschaftsdusche kommend, mit allerliebstem Duschhäubchen auf dem Kopf, Häschenpantoffeln und rosanem Pyjama. Routinemäßig lasse ich sie auch heute wieder wissen, dass meine Dusche nicht funktioniert. Routinemäßig antwortet sie mir, dass die Duschen nur abends heißes Wasser abgeben. Routinemäßig sage ich ihr, dass nicht nur abends kein heißes Wasser geht, sondern vielmehr den lieben langen Tag gar keins. Sie verspricht mir, sich das anzukucken. Das tut sie jeden Tag. Wir sind ein eingespieltes Team.

Über solche Petitessen rege ich mich ja gar nicht auf, ich hause hier um ein vielfaches besser, als ich je zu hoffen gewagt hatte. Eine innere Stimme - wohl von Erfahrung geprägt - hatte mich sofort bei Einzug aufgefordert, mir eine Waschschüssel und einen Wasserkocher zu besorgen. Und so wasche ich mittags meine Haare und morgens mich, und wenn ich selbst gerade mal gar kein Wasser habe, dann wird halt bei den Nachbarn welches besorgt - als Viktorias Dusche noch nicht funktionierte, aber meine dafür noch, hatte ich ihr Dusch-Asyl gewährt - wir sind doch alle eine große Familie.

Im Prinzip funktioniert ja alles ...na ja, "bestens" ist vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck...vielleicht eher: "erwartungsgemäß"? Es sind ja immerhin eine ganze Menge Baustellen aufgemacht worden und es musste vielleicht manches doch etwas schneller gehen als es gut war. Öfter stehen die Versorgungsschächte offen, weil irgendwelche Arbeiten durchgeführt werden müssen (kein Wasser, kein Strom, kein beides...) und ich werfe dann da schon so manchen besorgten Blick hinein. Vielleicht ist einfach alles noch nicht so ganz im Einklang, so "yin-yang-mäßig". Aber bei der Umgebung wird das bestimmt von ganz allein...

07.10.08

Eigentlich ist ja heute der 09.09. nach dem chinesischen Mondkalender. Zheng Wus Geburtstag. Nun zeigt sich, warum wir in den letzten Tagen so intensiv Konfirmanden-Unterricht erhalten haben. Um 8.30 h zieht die gesamte Schülerschar Richtung Zixiaogong, auf dem Weg dorthin noch schnell bei Frau Qu Halt gemacht und ihre Bestände an Räucherwerk und Knallmaterial
aufgekauft. Vor Einzug in den Tempel werden erst einmal die Kracher gezündet, so zur Einstimmung, dann vor jedem Räucherofen Halt gemacht und Räucherstäbchen - oder besser Stäbe - angezündet und Geisterpapier abgefackelt. Vor dem Haupttempel von Zheng Wu dann große Aufstellung, die Erwachsenen in einer Dreierreihe in der Mitte, links und rechts davon die Kleinen. Zhangzen und Guan stehen vorn und fordern neben zwei anderen aus meiner Klasse auch mich auf, einen Räucherstab zu entzünden und zu opfern. Ich fühle mich geehrt und als alle Schüler dann hinterher noch ihren Kotau machen, bin ich doch sehr dankbar, dass diese Zeremonie durch den Unterricht der letzten Tage nicht mehr rein gymnastischen Charakter hat.

Ich habe zwar immer ein etwas befremdetes Gefühl, wenn Menschen unseres Kulturkreises sich eine fremde, möglichst exotische Religion aufpappen, allerdings fühle ich mich von der daoistischen Philosophie und dem Leben hier im Kloster einfach angesprochen, auch wenn ich weit davon entfernt bin, wirklich etwas zu verstehen. Aber jede Reise beginnt ja bekanntlich mit einem ersten Schritt und es spricht auch für das freundliche Wesen der Menschen hier, mich, die Fremde, ohne große Fragen bei dem Fest mit einzubeziehen und teilhaben zu lassen, ohne sich zu fragen, ob ich dessen überhaupt würdig bin, die erforderlichen Reifeprüfungen abgelegt habe und Kirchensteuer bezahle.

Guan blüht regelrecht auf, wenn er spürt, dass seine Schüler nicht nur aus sportlichen Gründen hierherkommen, sondern auch Fragen über die Hintergründe stellen. Und das tun Dennis und ich sehr gern. Ich bin gottfroh, dass endlich jemand da ist, der - wenn auch nur in's Englische - übersetzen kann, damit Guans Ausführungen nicht völlig versanden. Wäre schade, denn er weiß
wirklich sehr viel. Sobald er anfängt zu erzählen, bildet sich eine interessiert Menschentraube im Tempel um ihn, weil er mit soviel Feuer berichtet, dass man kaum weitergehen kann. Das motiviert mich ganz gewaltig, meine chinesischen Sprachkenntnisse doch mal über das "Ich-Tarzan-Du-Jane"-Niveau herauszubringen. Für meine täglichen Geplänkel
mit Frau Qu reicht es zwar, für eine Unterhaltung, die über die Feststellung "schönes Wetter heute" hinausgeht, aber leider nicht. Ich kann zwar so "MaMa-HuHu" lesen und schreiben (besonders, wenn ich meinen Rechner mit Internet im Hintergrund habe...), aber reden und verstehen...na ja...

Guan hatte mir einen Zettel in die Hand gedrückt, in dem meine Schwertform in Pinyin und Wunglish aufgeschrieben steht. Da ich damit so gut wie gar nichts anfangen kann, habe ich ihn um die Liste in Schriftzeichen gebeten. Sein skeptischer Blick hat mich dazu gebracht, das ganze mit Feuereifer zu übersetzen (und dabei noch ein paar Fehler in allen Sprachen (!) auszumerzen). Die Datei habe ich ihm dann zügig übermittelt. Das fand er ganz klasse und hat das dann auch den Mitschülern weitergetratscht. Und hatte auch gleich eine Idee: jeder soll doch bitte seinen Lernzettel in seine Landessprache übersetzen! Totenstille. Manche haben Formen mit 108 Bewegungen. Und mehr. Meine hatte gerade mal 36. Und ich habe alle möglichen kleinen elektronischen Helferlein. Ohne das, nur mit Wörterbuch, stelle ich mir so eine Übersetzung ganz schön aufwändig vor. Egal, die Vorlage steht. Habe ich da ein gezischtes "deutsche Streberin" gehört?...nein, kann nicht sein, auf englisch gibt es ja gar kein "Streberin"...

09.10.08


Nun sitze ich hier auf dem gastlichen Flughafen zu Xiangfan - die endlich renovierten Toiletten heben den Level kaum - und warte auf meinen Flug nach Beijing. Ein letztes Mal gut chinesisch essen. Wie am Anfang meiner Reise bestelle mich mein Lieblings-Standardgericht, scharfe Nudelsuppe mit Rindfleisch. Das bestelle ich immer, weil ich es einigermaßen aussprechen
kann. Dann übergießt mich die Bedienung immer mit einem Wortschwall, schaut mich irgendwann erwartungsvoll an, ich sage dann "ja" und harre der Dinge, die da kommen. Eigentlich immer etwas anderes, gelegentlich scharfe Nudelsuppe mit Rindfleisch, auf jeden Fall immer lecker. Meine chinesischen Sprachkenntnisse haben sich leider nicht wesentlich verbessert, allein die Dialoge mit den Elfen zwecks Öffnung meiner defekten Tür und Erbetteln von Klopapier liefen am Ende recht geschmeidig. Mein Chinesisch-Buch habe ich in der ganzen Zeit nur ein einziges Mal in die Hand genommen, nämlich als ich
es zwecks Umzug eingepackt habe. Allerdings habe ich etwas viel wertvolleres gelernt: ein wenig "International" zu sprechen. So schlägt sich meine Freundin Elli schon seit vielen Jahren bar jeder fundierter Fremdsprachenkenntnisse durch die Welt und genießt dafür meine uneingeschränkte Bewunderung. Nach einem Monat Babylon glaube ich, ich habe zumindest die Ansätze dieser Kunst verstanden.

Die letzten Tage waren ziemlich lebhaft, auch wenn es wenig berichtenswertes hierüber gibt. Am Dienstag sind meine Freunde Yürgen und Gerlinde nach einigen Irrungen und Wirrungen endlich eingetroffen, da gab es natürlich erst einmal viel zu erzählen. Bestimmt ein merkwürdiges Gefühl, wenn man Leute aus Geschichten kennt und diese dann persönlich kennen lernt. Wie menschgewordene Romanfiguren. Nun können die beiden vor Ort feststellen, ob meine Beschreibungen von Aziz und Youki, Jen und Simon, Tanja, Viktoria und Dennis zutreffend sind. Guan und Zhong kennt ja jeder. Gestern sind alle außer Viktoria, Dennis und Tanja nach Shiyan zum shoppen gereist. Da wir uns auf dem Berg wieder einmal auf zwei Tage Stromausfall freuen dürfen, werden sie dort auch bleiben. Recht haben sie. So erspare ich mir große Abschiedsszenen und da bin ich auch heilfroh drum. In den letzten Wochen sind sie mir doch alle sehr ans Herz gewachsen, jeder auf seine eigene, manchmal etwas schräge Art. Aber leicht schräg bin ich unbestätigten Gerüchten zufolge ja selbst.

Gestern hatten Jen und ich noch ein bisschen Aufregung. Jen kam morgens leichenblass zu mir: ein Fernsehteam würde kommen und Guan habe sie dazu verdonnert, eine der Hauptrollen zu spielen. Und ich die Zweite. Prima. Von meinem Ärger darüber, dass Guan es nicht für nötig befunden hat, mir auch mal etwas zu sagen, einmal abgesehen, bleibe ich relativ locker. Ist mir doch egal, ob sich ein Millionenpublikum mein ungelenkes Schwert-Gestochere anschaut: hier kennt mich doch kein Mensch. Da finde ich das allmittwöchliche Vortunen vor meiner Klasse viel unangenehmer - die haben zumindest eine Ahnung von dem, was ich eigentlich tun sollte. Nach meiner Abschiedsvorstellung vor meiner Klasse geht's also im Eiltempo mit Jen und Guan zum Tempel, Yürgen, der unbedachterweise Tracht angelegt hat, um umsonst rein zu kommen, wird gleich mit verhaftet, wir zeigen den Fernsehleuten was wir können und jetzt weiß die ganze Welt (zumindest die chinesische, wenigstens die der Provinz Hubei), dass es da auf dem Wudang Shan einen Purpurwolkentempel gibt, wo auch Ausländer in merkwürdigen
Kleidern merkwürdige Bewegungen, von denen sie behaupten, es wäre Taiji, machen dürfen.

Ein Monat Trainingslager...bin ich froh, dass es vorbei ist und ich wieder heim zu warmer Dusche, genießbarem Bier und verlässlicher Stromversorgung komme? Eigentlich habe ich den Komfort nicht wirklich vermisst. Ich habe soviel bekommen, dass ich mir über einen möglichen Mangel überhaupt keine Gedanken gemacht habe. Natürlich gab es Momente, wo ich frierend in meinem klammen, kalten Zimmer versucht habe, meine gelegentlich leicht überlasteten Muskeln und Sehnen wieder schmerzfrei zu bekommen und mich dann schon gefragt habe, warum ich mir das antue. Momente, in denen der Wunsch nach
einer heißen Badewanne mit einem Glas Rotwein in der Hand, vielleicht leiser Musik im Hintergrund fast übermächtig wurde. Auf der anderen Seite hat dieser kleine Ausstieg aus dem Alltag, der mir jetzt in meiner Vorstellung
hier auf dem Flughafen von Xiangfan absolut unwirklich vorkommt, viele Dinge wieder in's rechte Licht gerückt. Fragen, was denn tatsächlich so wichtig ist, dass ich auf keinen Fall darauf verzichten möchte, haben neue Antworten gefunden. Eine wichtige Antwort jedenfalls: in dem alten Knochensack steckt noch jede Menge Leben!

Als Guan und Zhong sich verabschiedet haben, war die Frage nicht, ob ich wiederkomme, sondern ganz selbstverständlich nur, wann. Und da haben sie völlig Recht. Auf Wiedersehen, Wudang Shan!

...und wenn ihr wollt, koennt ihr euch auch naechstes Jahr wieder einklinken
bei "Neues aus Wudang Shan"
viele Gruesse

Lilo

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